GEWISSEN (Basislexikon: kompetent-kritisch-konstruktiv)

Das GEWISSEN ist die Fähigkeit des Menschen, die ihm von der Natur gegeben wurde, sich selbst, sein Wollen und sein Verhalten am Maßstab der im Laufe seines Lebens erfahrenen und bewusst und unbewusst akzeptierten Auffassungen ("Wissen") von gut und böse zu prüfen und zu bewerten. Wir haben es also mit einer Art innerer Waage zum Vergleichen zwischen Ideal und Wirklichkeit im ganz persönlichen Leben jedes einzelnen Menschen zu tun, soweit es um Dinge geht, die die Moral betreffen. In welchem Ausmaß das Gewissen dabei von Wertvorstellungen abhängig ist, die in einer jeweiligen Gesellschaft vorhanden sind und die bewusst oder unbewusst übernommenen werden, können wir an der Einstellung der Eskimos zu menschlichem Leben ersehen: Sie finden es ganz normal und spüren vermutlich ihr Gewissen kaum, wenn sie alte Leute im ewigen Schnee und Eis aussetzen, während sie uns in den zivilisierten Ländern jedoch als Kindermörder verachten, weil wir hier nur zu oft ungeborene Kinder abtreiben. Wir hier dagegen empfinden nur zu oft kaum Gewissensbisse bei Abtreibungen, sehen aber das Aussetzen und damit das indirekte Töten alter Menschen als Mord an.

Ist Moral etwas, was uns wirklich nur eingeredet wurde?

Ist also alles, was Gewissen ist, letztlich nur anerzogen? Wäre es nicht besser und einfacher für uns, wenn wir das alles wieder vergäßen? Dieses Denken lässt wohl außer acht, dass es mit Sicherheit eine menschheitsgeschichtliche Veranlagung zur Moral in uns Menschen gibt. Es ist also das alte Thema, das auch den russischen Dichter Dostojewski in seinem Werk "Der Großinquisitor" bewegt, wenn er in einer fiktiven Erzählung den Großinquisitor mit Jesus über den Begriff der Freiheit (von der moralisierenden Gängelei) diskutieren lässt, der Großinquisitor behauptet, dass der Mensch nicht zur Freiheit fähig sei, Jesus steht auf der Seite der Freiheit. Die Frage ist wohl nur, ob unser Gewissen von Kind an entsprechend unserer menschlichen Veranlagung geprägt wird - oder ob es "daneben läuft". (Auch hierüber hatte Jesus vermutlich nachgedacht, wenn er sagte: "Lasset die Kinder zu mir kommen...")

Eine plausible Darstellung, was Gewissen sein sollte und was es nicht sein sollte, hat der Psychologe Sigmund Freud entwickelt. Er teilt sozusagen die Seele des Menschen in drei unterschiedliche Bereiche ("Sphären") ein, die oft genug miteinander in Konflikt stehen:

  1. Über-Ich. Darunter versteht Freud vor allem alles das, was uns als gut und böse und an anderen Normen anerzogen wurde und mit den verschiedenen Gesetzen, Verboten, Tabus und anderen Methoden so eingetrichtert wurde, dass wir regelrechte Mauern in unseren Köpfen aus den unterschiedlichsten Ängsten und Vorurteilen  haben, die wir gar nicht mehr zu hinterfragen wagen und uns schon von allein danach richten oder wenigstens meinen, es tun zu müssen. Freud nennt diese Sphäre auch das "Gewissen" (siehe auch "zeitbedingte Atmosphäre").

  2. Es. Die Es-Sphäre ist für Freud die Triebsphäre, also das "Triebhafte" in uns, was einfach ohne jede Einschränkung leben oder sich eben triebhaft ausleben möchte.

  3. Ich. Das ist eigentlich das, was ein reifer und selbstbewusster Mensch mit guter Menschenkenntnis über sich selbst und andere und mit gutem Realitätsbewusstsein und sich daraus folgerndem Lebenskonzept aus gesundem Eigeninteresse <etwa an einer gelingenden Einheit von Leib und Seele> heraus (siehe Egoismus) will oder nicht will.

Nach Freud drängt uns nun unser Es in uns, so manches von dem zu tun, was wir nach dem, was uns mit dem Über-Ich anerzogen wurde, eigentlich nicht tun dürfen. Da die Triebe des Es jedoch so stark sind, dass wir ihnen nicht ausweichen können, tun wir es trotzdem und verstoßen damit gegen das Über-Ich, also gegen die uns anerzogene innere Waage von gut und böse. Und damit bekommen wir das so genannte schlechte Gewissen und eben Schuldgefühle.

Als typischen Beispiel sieht Freud hier unsere Triebhaftigkeit zur Selbstbefriedigung. Eigentlich sollten wir sie von unserem Über-Ich her nicht tun (Gott und die Kirche haben's verboten und vor der Mutter geniert man sich, wenn sie die Sportflecken im Betttuch entdeckt, und der Vater wirft einem fehlende Härte und Männlichkeit vor, wenn er davon weiß), wir tun sie aber doch - und kommen in einen Gewissenskonflikt mit den uns anerzogenen Normen. Die Folgen sind Gewissensbisse oder auch Schuldgefühle, also Ängste, die schlimmstenfalls dazu führen, dass wir schließlich seelisch krank werden. Und auf diese seelische Krankheit ist nach Freud und vor allem nach vieler Psychologie heute schließlich dann alles Böse in der Welt zurückzuführen bis hin zur Unterdrückung anderer in Form von Rassismus und Machismo (siehe Macho). Also müssen alle Normen und Verbote aus dem Über-Ich vor allem im Bereich der Sexualität abgeschafft werden, denn dann kommt es nicht mehr zu Schuldgefühlen und damit auch nicht mehr zu den entsprechenden Verarbeitungen, die dann immer im Bösen enden.

Es gibt auch Dinge, die man lieber nicht tut, weil es einfach vernünftig und vorteilhaft ist.

Allerdings gesteht Freud auch zu, dass sich ein Gewissen, also die innere Waage eines Menschen, auch aus dem Ich heraus entwickeln kann: Der bewusst denkende und lebende Mensch unterlässt ganz einfach etwas, weil er eben erkannt hat, dass aus Eigeninteresse gerade dieses Unterlassen für ihn einen ganz besonderen Reiz hat und auch von Vorteil ist, etwa weil er dadurch zu einer höheren Erfüllung seines Lebens gelangt. Wir nennen ein solches Gewissen dann ein ich-gesteuertes Gewissen, während das erstere eben ein über-ich-gesteuertes Gewissen ist oder ein Gewissen aus einer Sklavenmoral.

Sehr plausibel wird das Problem im Zusammenhang mit dem Rauchen Jugendlicher. Man kann es unterlassen, weil´s etwa die Eltern verboten haben, das wäre dann von einem über-ich-gesteuerten Gewissen her, doch man kann auch darauf verzichten, weil man sein Geld für eine schöne Reise sparen will (für "den wirklichen Duft der großen weiten Welt" oder für das wirkliche Erlebnis von "Abenteuer und Freiheit"), weil man keine schwarze Lunge bekommen möchte, weil man lieber Sport treibt, weil man dem Bundesfinanzminister nicht die Steuereinnahmen gönnt oder weil man es albern findet, wie die Kameraden sich lässig-krampfhaft mit den Glimmstengeln im Mund erwachsen machen - das wäre dann von einem ich-gesteuerten Gewissen her.  

Während das über-ich-gesteuerte Gewissen nun von größtem Nachteil für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist, ist ein ich-gesteuertes Gewissen Kennzeichen einer besonders geglückten Persönlichkeit. Menschen mit solcher geglückter Persönlichkeit pflegen sich im übrigen auch stets vor ihren Handlungen Gedanken zu machen, also wenn es wirklich Sinn hat und Nutzen bringt und sie handeln auch danach. Menschen, die wegen ihrer Über-Ich-Verhaftetheit sich immer erst hinterher Gedanken über ihre Taten und ihre wirklichen Folgen machen und diese dann erforderlichenfalls bereuen, sind dagegen Fälle für den Psychiater. (Die Idee von über-ich- und ich-gesteuertem Gewissen stammt von Rupert Lay S.J.)

Und einen weiteren Nachteil des über-ich-gesteuerten Gewissens führt Albert Einstein in einem Brief an einen Pfarrer vom 20. 11. 1950 an:

„Das Streben nach moralischem Handeln ist das wichtigste Streben der Menschen. Sein inneres Gleichgewicht, ja, seine Existenz hängen davon ab. Moralisches Handeln allein kann dem Leben Schönheit und Würde verleihen. Dies den Jungen lebendig zu machen und zu voller Klarheit zu bringen ist wohl die Hauptaufgabe der Erziehung. Die Gestaltung des moralischen Ideals sollte nicht an einen Mythos gebunden und mit einer Autorität verknüpft werden, dass nicht durch Zweifel an dem Mythos oder der Berechtigung der Autorität das Fundament des richtigen Urteilens und Handelns gefährdet werde.“

 

Auch und gerade in den Dingen der Sexualität kann der Mensch ein ich-gesteuertes Gewissen entwickeln! Er braucht allerdings die entsprechenden Informationen!

Grundanliegen des Konzepts basisreligion ist es vor allem, dass es auch und gerade im Bereich der Sexualität ein ich-gesteuertes Gewissen geben kann und geben muss, ja dass dies dann ein Zeichen von wirklichem christlichen Glauben und von  wirklicher Freiheit und Emanzipation ist! Wenn es Enthaltsamkeit gibt, dann muss der Grund dafür nicht Angst vor der Bestrafung durch eine Gottheit sein usw., sondern die kann es durchaus aus einem höheren Egoismus geben, weil man nicht auf einen idiotischen Don Juan  reinfallen will, weil man Erfüllung in einer wirklichen Partnerschaft und Liebe mit dem dazugehörigen wirklichen Orgasmus lebenslang erleben will.

Und was ist mit dem Es, wo lässt man das bis dahin? Wer hier sagt, das Es könne sich nur in Befriedigung bis hin zum Geschlechtsverkehr austoben, der scheint nun wirklich von sich auf andere zu schließen (siehe Unterstellungen und Projektion)! Doch im Konzept basisreligion mit seiner Ächtung jeglicher sinnlosen Verklemmtheit und Leibfeindlichkeit sind genau hierfür Sollbruchstellen  vorgesehen! Und damit schlagen wir nun sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: das Erlebnis einer Phase der Ästhetik mit einer unschuldigen Nacktheit und gleichzeitig ein harmloses Austoben! Wir werden sehen, wenn junge Leute erst einmal das gespannt haben - uns wird noch Hören und Sehen vergehen! (Allerdings ist da noch einige Spießigkeit zu überwinden! Und keine Angst, die jungen Leute sind doch nicht doof und produzieren sich leichtsinnig an ungeeigneter Stelle und vor ungeeigneten Leuten! Doch wie es jetzt ist, sind sie ja sozusagen immer voller Ängste vor allem im Zusammenhang mit der Nacktheit, auch dort, wo es wirklich kein Problem wäre. Von einem unschuldigen Spaß kann jedenfalls zur Zeit keine Rede sein! Und nicht nur von Spaß in "dem Zusammenhang", junge Menschen werden ja auch sonst schlechthin zu Ängsten erzogen! Ich erinnere mich, wie ich einem munteren 11jährigen Mädchen mal bei der Besichtigung einer Dorfkirche sagte, sie solle uns doch mal ne Predigt halten, schließlich zahlten wir ja Kirchensteuer und also gehöre die Kirche auch uns, natürlich dürften wir nichts kaputt machen - und wie die da aufdrehte!)

Und welche Rolle spielt Gott dann dabei? Basisreligion ist hier gegen jeglichen unnötigen Glauben (auch nicht einen aus Liebe zu Gott), weil dieser letztlich doch nur wieder eine typische Macho-Ideologie und damit ein problematisches Über-Ich produziert. Daher kann es hier nur eine so weit als irgend möglich rationale Einstellung geben gegenüber allem, was mit Religion zusammenhängt. Und es geht gerade dann anders und besser: Wir hoffen, dass es einen für uns hilfreichen Gott gibt und wir bitten ihn gleichzeitig demütig um Gnade, dass wir bei allem den rechten Durchblick haben, dass wir die wirklichen Gefahren und damit die wirklichen Fallgruben des Lebens erkennen, dass wir die richtigen Konzepte finden und den wirklich hilfreichen Menschen vertrauen und die falschen erkennen. Und das Gebet in diesem Sinn ist dann auch wirklich christliches Gebet

Und warum sollte man sich denn nicht auf Spielregeln einigen, die für alle gelten?

Damit sich nicht jeder Mensch sein Gewissen nach eigenem Belieben zurechtlegt oder allenfalls im Umgang mit anderen in Form einer Aushandlungsmoral, wobei schließlich niemand mehr weiß, was vernünftig ist und wo man doch nur dumm und anderen ausgeliefert ist (siehe etwa Liebesbeweis oder rosarote Brille), gibt es für uns Christen als Orientierung an unserer Veranlagung den Maßstab der Zehn Gebote. Daher kann es nur als Unsitte angesehen werden, wenn sich heute Menschen bei Dingen, die sie nicht gern tun, ständig auf ihr Gewissen berufen, etwa wenn sie den Wehrdienst verweigern oder wenn sie sich vom Religionsunterricht abmelden. Statt zu verweigern, sollten wir uns lieber dafür einsetzen, dass solche politischen Verhältnisse erhalten bleiben oder geschaffen werden, die günstige Grundbedingungen für menschliches Glück bieten. Und wer wirklich aus Gewissensgründen Bedenken gegen den Religionsunterricht hat, wird daher an diesem Unterricht teilnehmen und versuchen, ihn im Sinne eines sinnvollen Wissens zu beeinflussen.

 

Kritik an Freuds Schema vom Gewissen

Über das Über-Ich werden auch durchaus völlig harmlose Dinge verfemt, etwa der Spaß an der Nacktheit. Statt zu lernen, sie mit Umsicht, also mit Menschenkenntnis und Lebensklugheit, zu praktizieren, prägt sich schon Kindern ein, dass sie etwas Schlechtes oder zumindest Anrüchiges ist. Und Verstöße gegen die Regeln der Scham bewirken ein schlechtes Gewissen - zumeist völlig zu Unrecht! Damit wird aber nun ein ganzer Teil unseres Menschseins gestört, wir werden leib- und schließlich auch geistfeindlich -  mit nun wirklich negativen Auswirkungen auf die (Sexual-)Moral!

Doch könnte man das Freudsche Schema dennoch gelten lassen, man müsste den Kindern nur eben beibringen, dass sie vom Über-Ich her manches beigebracht bekommen und dann auch übernehmen, was einfach reine Manipulation ist und woran sie sich besser nicht halten sollen, um diese Manipulation nicht auch noch zu verinnerlichen.

So liegt die Ursache des Bedarfs nach einer vaginalen Selbstbestimmung schon mancher Mädchen doch vor allem auch darin, weil sie von ihrem Über-Ich her etwas als verrucht und sogar pervers angesehen hatten, was nun wirklich nur ein harmloser Spaß sein kann, weil ihr Gewissen also falsch und fürs wirkliche Leben untauglich programmiert war!

 

Merkwürdige Vorstellungen von Pädagogen.

Zu den Stufen der Gewissensbildung nach Lawrence Kohlberg (1927 - 1987) eine kritische Anmerkung (für die, die das entsprechende Vorwissen haben, oder für die anderen; siehe etwa die Website http://www.gottwein.de/Eth/Moral01.htm#Kohlbergs%20Stufenschema): Aufgabe eines funktionierenden kindlichen Religionsunterricht(s) wäre es nach Kohlberg, möglichst schnell überhaupt alles zu überwinden, was mit einem Gewissen aus Strafe und Belohnung zu tun hat. Doch gerade in der Pädagogik der Sexualmoral bietet sich immer ein Neuanfang für alle jungen Menschen an nach dem Motto: "Was wollt ihr wirklich?" Siehe auch Kindererziehung und Erstkommunion. Wir sollten nämlich nicht darauf vertrauen, dass es einen Automatismus gibt, aus dem heraus die Menschen allein mit dem Alter ihr über-ich-gesteuertes Gewissen überwinden. Mit dem Lebensalter eines Menschen hat das Problem "über-ich-gesteuertes Gewissen - ich-gesteuertes Gewissen" ziemlich wenig zu tun: So können eine Zehnjährige oder ein Zehnjähriger durchaus ein ich-gesteuertes Gewissen haben und ein Fünfzigjähriger ein über-ich-gesteuertes. Fakt ist, dass die meisten Menschen zeitlebens von ihrem über-ich-gesteuerten Gewissen nicht loskommen!

 (Wörterbuch von basisreligion und basisdrama)

Den "Offenen Brief eines alten Religonslehrers an junge Mädchen über die weibliche Sexualität und die Bibel" (Mai 2012) gibt es auch online auf Deutsch, auf Englisch und auf Niederländisch!