Das REALITÄTSBEWUSSTSEIN (auch Wirklichkeitsbewußtsein, inneres Abbild der Wirklichkeit) eines Menschen ist der Naivität entgegengesetzt und von größter Bedeutung für die Funktionsfähigkeit seines Denkens. Es ist sozusagen die Grundlage jedes vernünftigen Zusammenwirkens von Denken und Handeln (siehe auch Theorie und Praxis), und es ist damit vor allem anderen zuständig dafür, ob ein Mensch sinnvolle Entscheidungen in seinem Leben trifft oder ob er - zumindest in einigen Bereichen - mehr oder weniger irrational handelt. Ein zutreffendes Realitätsbwußtsein ist jedenfalls die unverzichtbare Basis für einen freien und emanzipierten Menschen! Es bildet sich durch die vielfältigsten Informationen, die ein Mensch auf die unterschiedlichste Weise (Eltern, Schule, Kirche, Medien, Kameraden, eigene Erfahrung und eigene Erkenntnis) erhält und die er in sein bereits vorhandenes Wissen nach ihm bewußten oder unbewußten Denkmustern einordnet. Wir müssen uns dieses Realitätsbewußtsein etwa wie einen inneren Straßenatlas vorstellen, der ein mehr oder weniger genaues und zuverlässiges Abbild der Wirklichkeit darstellt. Für unsere Lebensgestaltung gilt nun, daß dieses Abbild um so nützlicher ist, je genauer und umfassender und gleichzeitig je knapper und skizzenhafter es die entscheidenden Informationen enthält, selbst wenn wir nicht bei jedem Ausflug gleich alle brauchen. Doch sind wir dann wenigstens nicht ahnungslos und unvorbereitet und schlagen von vornherein nicht ungünstige Wege ein, wenn sich aus einer Situation, die vorher niemand so recht ahnen oder gar nicht wissen konnte, einmal eine Umleitung als notwendig ergeben sollte oder wenn wir ganz einfach aus Neugier oder aus Lebensfreude einmal eine Sonderspritztour einlegen wollen. Kennen wir es nicht aus eigener Erfahrung beim Autofahren, wie ärgerlich es ist, wenn wir uns da mit falschen oder undeutlichen Landkarten herumschlagen müssen? So wie es bei einem guten Straßenatlas darauf ankommt, daß er ein genaues Abbild der Wirklichkeit ist, damit wir uns orientieren können, so gilt das auch für unseren inneren Straßenatlas für unser Leben. Das Problem des inneren Straßenatlasses gehört zur Gedankenwelt von Strategie und Kybernetik und wird unter dem Begriff "internes Modell der Außenwelt" im Stichworten Spieltheorie ausführlicher behandelt. Das Manko in unsere Kulturen: Es wird alles getan, damit wir von Kind an für die Arbeitswelt einen möglichst guten inneren Straßenatlas erhalten und für das Privatleben einen möglichst schlechten. Leider wird immer noch der Qualität dieser inneren Straßenkarten von unserer Erziehung her völlig unterschiedliche Bedeutung beigemessen: Fürs Arbeitsleben erhalten wir größtenteils erstklassige Informationen, wir erfahren Gesamtüberblicke und werden auch mit allen möglichen Einzelheiten konfrontiert, damit wir in unserer späteren Arbeitswelt einmal nur ja brauchbare Glieder werden. Was bekommen wir da nicht alles an Systematisierungen mit und an Tips und Kniffen, und alles ist pädagogisch bestens aufbereitet, damit wir nur ja nichts falsch machen! Und wieviel anders sieht das jedoch bei den Straßenkarten für unser Privatleben aus, bei dem es eigentlich nicht mehr und nicht weniger als um den Sinn des Lebens geht? Das erzieherische Ideal gerade für die Kartenskizzen da scheinen doch am liebsten die sogenannten weißen Flecken mit allen möglichen Zäunen drumherum zu sein! Da wird nicht nur ausgelassen und falsch informiert (etwa über Jesus oder über die Schöpfung), da werden nicht nur "Karten von Gegenden" aufgebaut, die es gar nicht gibt und die uns normalerweise gar nicht zu interessieren brauchten (Wunder, Leben nach dem Tod), da werden nicht nur "Straßen" eingezeichnet, die völlig unbefahrbar sind (zur Moral über die <Sexual->Scham) und andere "Straßen" weggelassen, die sehr gut befahrbar sind (über Information und Strategie), sondern da werden auch noch Sperren aus Tabus und Ängsten aufgebaut, daß wir uns nicht noch die geeigneten Informationen woanders her holen, wenn wir schließlich doch noch mißtrauisch werden sollten. Denken wir doch nur einmal an die fehlerhaften oder überhaupt unterlassenen Informationen über die Einheit von Leib und Seele, über die Risiken, auf dem Weg dahin etwa auf leeres Imponiergehabe oder oberflächliches Weiblichkeits-Getue reinzufallen? Was erfahren wir beispielsweise denn über die natürlichen Mechanismen, wie wir sie für uns nutzen können und wo wir wirklich besser vorsichtig sein sollten? Erfahren wir da nicht zu oft gar nichts oder zumindest in entscheidenden Punkten mehr Falsches als Richtiges? Kommt das alles nicht einer Gehirnwäsche gleich? Völlig tabuisiert wird schließlich vor allem alles, was mit der wesentlichsten Grenzerfahrung unseres Menschseins, dem Orgasmus zusammenhängt. Daß wir diese auch erproben können mit mutiger Enthaltsamkeit und ohne vollendete Tatsachen, ist eines der für junge Menschen bestgehütetsten Geheimnisse. Allerdings dürfen wir es wohl keinem Menschen so recht zum Vorwurf machen, daß uns für unsere eigene innere Landkarte hier kaum jemand zutreffende Informationen gibt, denn wem waren sie schon in seinem eigenen Leben zugänglich, wem hat sich ihre Sinnhaftigkeit schon durch eigene wirklich positive Erfahrungen bestätigt? Und so leiden wir vielleicht alle mehr oder weniger unter Realitätsverlust (oder Wirklichkeitsverlust), das heißt, daß wir nur zu oft die Wirklichkeit nicht mehr so sehen, wie sie ist, sondern so, wie wir sie sehen wollen (siehe Verdrängungen). Verhängnisvoll wird ein falsches Realitätsbewußtsein für uns vor allem in Entscheidungssituationen, die von starken Gefühlsregungen begleitet werden - also etwa im Fall einer Liebe oder einer Verliebtheit. Dann machen wir uns entweder unser Leben unnötig schwer und leiden beispielsweise heftige Qualen der Enthaltsamkeit, oder wir werfen alle bisher gültigen, doch jetzt als unrealistisch empfundenen Lebensregeln über Bord, weil sie ja ganz offensichtlich nicht das Gebiet betreffen, in das wir jetzt auf unserem Lebensweg geraten sind. Zum Erlernen neuer Landkarten ist es dann auch zu spät, denn jeder Mensch neigt dazu, das Wissen, das er einmal hat, gerade in den Dingen, die mit Gefühlen zu tun haben, als umfassend und ausreichend zu betrachten (siehe Eingebildetheit). Der von Realitätsverlust betroffene Mensch trägt dann sozusagen eine rosarote Brille, mit der er andere Menschen nur von ihrer Schokoladenseite sieht, und fühlt sich selbst bei noch so unsinnigen Handlungen zunächst oder auch zeitlebens völlig im Recht. Nur, die Folgen, also die Ent-Täuschungen mit all dem Leid und dem Ärger, die sich aus alledem ergeben und unter denen hat er schließlich zu leiden hat, die muß er schon selbst ausbaden. (Dafür bieten sich dann unter anderem die Religionen an, die daran dann entsprechend verdienen.) Und wie kommt nun ein Mensch nun zu einem brauchbaren Realitätsbewußtsein? Erzieher mögen oft bestürzt sein, womit die jungen Menschen alles konfrontiert werden, und sie werden sich außerstande fühlen, selbst bei denen, die ihnen nahe stehen, noch etwas zum Guten zu lenken. Doch keine Panik! Die Natur hat gewiß Vorsorge getroffen, daß junge Menschen zumindest das Übliche, was auf sie so zukommt, auch verarbeiten und zu ihren Gunsten wenden können. Das Realitätsbewußtsein muß eben nur ausreichend umfassend sein, das heißt, sie müssen wissen, um was es geht, welches die Kehrseiten sind (siehe Ambivalenz), auf welche Weise sie manipulierbar sind. Schädlich kann so auch für junge Menschen nur sein, wenn sie durch falsche Informationen ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit erhalten, wenn dadurch ihr internes Abbild der Wirklichkeit, also ihr innerer Straßenatlas, falsch oder unvollkommen ist. Neuere Forschungen haben ergeben, daß Erfahrungen, die zu einem realistischen Bild der Wirklichkeit führen, keineswegs selbst gemacht werden müssen, die Fehler, die man bei anderen beobachtet, beeindrucken genauso! Die Natur scheint genügend Vorsorge getroffen zu haben, daß Menschen auch und gerade für die Entscheidungssituationen, die das Private betreffen, offen sind! Und falsche Informationen wirken sich nur dann ungünstig und nachteilig aus, wenn es keine Gelegenheit gibt, sie rechtzeitig durch bessere und wirklichkeitsgerechtere Informationen aufzuarbeiten. So ist es ein großer Unterschied, ob etwa ein brutaler oder sogar ein pornographischer Videofilm auf einen unvorbereiteten oder vorbereiteten Menschen trifft, ob ein Mensch ein Konzept von einem konkreten Ideal der Einheit von Leib und Seele hat oder nicht hat. Ein guter Durchblick und ein sinnvolles Insiderwissen kann leicht alle diese angeblich schädlichen Einflüsse nicht nur mehr als wettmachen, sondern sogar direkt umkehren. Es kommt in erster Linie darauf an, daß dieses Ideal vorher auch so zündend angesprochen wurde, daß es den Egoismus eines Menschen tatsächlich erreicht hatte. Wir dürfen dabei davon ausgehen, daß die Natur uns Menschen das Gehirn und damit unser Denkvermögen genau zu dem Zweck mitgegeben hat, daß wir dadurch unser größtmögliches Wohlbefinden - und hier auch durchaus unser seelisches Glück - ansteuern können. Ein zusätzlicher Vorteil, den uns Menschen da die Natur gewährt, ist gerade bei der Problematik der Sexualität die Tatsache, daß die entscheidende Phase der Pubertät doch recht spät auf die jungen Menschen zukommt und sie also nicht unvorbereitet davon getroffen zu werden brauchen. Sinn der unterschiedlichen Zeitpunkte von brauchbarer Denkfähigkeit und Geschlechtsreife ist doch wohl auch, daß die geschlechtlichen Triebe erst aktiviert werden, wenn die jungen Menschen schon von ihrem Bewußtsein her mit dieser Reife umgehen können! Das Problem des zutreffenden und für das Leben insbesondere junger Menschen wirksamen inneren Abbilds der Wirklichkeit, also eines brauchbaren Realitätsbewußtseins, ist nicht, daß es nicht machbar ist, sondern daß die Menschen fehlen, die ihre Verantwortlichkeit sehen, daß sich bei jungen Menschen ein solches Bild bildet. Es ist ja für jedes Establishment viel einfacher und letzten Endes auch viel profitabler, wenn junge Menschen keinen wirklichen Überblick haben über die wirklichen Chancen und Risiken in ihrem Leben und erst einmal von ihren Gefühlen überwältigt werden und drauflos handeln. Unter dem Gesichtspunkt des zutreffenden inneren Abbilds der Wirklichkeit sollten wir nicht nur die "Geschichten und Geschichtchen" unserer Religionen und Kulturen, die wir jungen Menschen oft mit viel Aufwand nahe bringen, und die oft schaurigen Berieselungen in Videofilmen und im Fernsehen kritisch unter die Lupe nehmen. Wir sollten auch das, was sonst noch alles an Unlogischem, Unwirklichem und Belanglosem auf junge Menschen einstürmt, bedenken, selbst wenn es noch so harmlos aussieht. Dazu gehören sicher auch vermeintlich unbedenkliche Zeichentrickfilme oder unwirkliche Phantasieromane (siehe aber auch Kulturproduktion, Märchen, Harry Potter). Ein Kind muß nicht Irrationales erfahren, damit seine Phantasie angekurbelt wird! Kennzeichen einer gefährlichen Information ist auch nicht, ob einmal ein nackter Busen, ein Penis oder ein Mord zu sehen ist, sondern ob das Bild von der Wirklichkeit verdorben wird, weil die Ambivalenz so ausgeklammert ist, daß sie gar nicht mehr wahrgenommen werden kann. Ein weiteres Problem ist das der Primärprägung, das gewiß auch für das Bild von der Wirklichkeit gilt. Es dürfte bisweilen schwierig sein, ein einmal vorhandenes Bild durch Ergänzungen später zu korrigieren. Es hat sich nämlich gezeigt, daß die ersten Informationen eines Menschen über eine Thematik besonders fest sitzen (also die sogenannten Primärinformationen) und alle weiteren Informationen über diese Thematik das einmal entstandene Bild entweder verstärken oder - schlicht und einfach - unwirksam sind. Wer etwa einmal ein negatives Bild über die Juden hat, dem kann man dieses Bild oft kaum noch ausreden, selbst wenn es dafür noch so gute Argumente gibt! Erzieher haben also zumeist nicht mehr eine reale Chance, etwas zu korrigieren, wenn sich erst einmal etwas Falsches festgesetzt hat. Makaber ist, daß sie auch noch oft genug an diesen Falschinformationen direkt beteiligt sind (siehe Glaubwürdigkeit und nützliche Idioten). Wichtig ist also der rechte Zeitpunkt, der Kairos für jede Information, die für das Abbild der Wirklichkeit eines Menschen wirksam werden sollen. Kinder sollten immer zu schade dafür sein, daß sie in irgendeiner Unwahrheit belassen werden, auch sie haben doch ihre Ehre! Erzieher sollten also beispielsweise nie die ihnen anvertrauten Kinder abends auch nur mit einer unbedeutenden falschen Information einschlafen lassen, die auch nur entfernt ein falsches Bild von der Wirklichkeit aufkommen läßt! Damit nicht schon erste Informationen im Leben eines Menschen über eine Thematik falsch sind, können Erzieher Kindern gegenüber unter Umständen durchaus zugeben, wenn sie von etwas keine Ahnung haben und auch in Anwesenheit ihrer Kinder eventuell in entsprechender Literatur nachschlagen. Und sie können ihre Kinder auch auf geeignete Bücher aufmerksam machen und ihnen Selbstbedienung empfehlen auch über das hinaus, was sie gefragt haben. Dieses Buch hier ist so konzipiert, daß es dem Verlangen junger Menschen nach einem günstigen Realitätsbewußtsein entgegen kommt. Unter dem Gesichtspunkt des günstigen Realitätsbewußtseins sollten wir auch einmal die Bedeutung von angeblichen Störungen aus dem frühkindlichen Unbewußten (siehe Tiefenpsychologie) überdenken. Was sollen wir da noch herumforschen, wenn wir uns schon am Bewußten eines Menschen durch einen chaotischen Informationswirrwarr versündigen? Letztlich dürfte ein zutreffendes Realitätsbewußtsein eines jeden Menschen immer eine Frage der Gnade sein, um die sich schließlich auch ein Gebet im besten christlichen Sinn lohnt. Es gibt da das schöne Gebet mit dem dreifachen Wunsch: "Herr lass mich erkennen, was ich ändern kann, lass mich erkennen, was ich nicht ändern kann, und lass mich das eine vom andern unterscheiden!" (Wörterbuch von basisreligion und basisdrama) |