FREIHEIT (Basislexikon: kompetent-kritisch-konstruktiv)

FREIHEIT. Ich habe lange überlegt, ob ich im Titel darauf hinweisen soll, dass es bei der Website um eine Theologie der Liebe oder gar um eine Theologie der Moral oder um eine Theologie der Freiheit (oder auch der Emanzipation, was eigentlich dasselbe heißt) geht. Es geht ja um alles. Was also ist die Grundvoraussetzung für das andere, woraus sich dann das andere ergibt?

Und die Grundvoraussetzung ist doch vor allem die Freiheit! Der wirklich freie Mensch ist also auch wirklich emanzipiert, hat den Durchblick, er weiß also, um was es sich dreht, ist frei von jeglicher Sklavenmoral, ist also frei von jedem über-ich-gesteuerten Gewissen, und wird von sich aus wirkliche Liebe und Partnerschaft und auch wirkliche Moral anstreben. Daher ist Freiheit der Oberbegriff! Und so geht es in dieser Website nicht nur um eine Befreiung von allen kriminellen Machenschaften, die immer noch stattfinden und wirksam sind und den Menschen an seiner Entfaltung behindern, sondern ganz grundsätzlich um eine Theologie der Freiheit!

Freiheit als Missverständnis einer Willensfreiheit.

Ob FREIHEIT als sogenannte Willensfreiheit tatsächlich existiert, ist umstritten. „Ein Mensch kann zwar tun was er will, aber nicht wollen was er will“, sagte Schopenhauer (1788 - 1860). Sind wir bei unseren Entscheidungen tatsächlich frei, sind wir außer von rein äußerlichen Bedingungen nicht immer irgendwie abhängig von irgendwelchen durch Hormone oder sonstwie gesteuerten natürlichen Mechanismen und im Grunde noch mehr von Informationen, die wir nur zu oft gar nicht oder eher zufällig erhalten haben, und gewiss auch von Ängsten und Zwängen (wie dem Gruppenzwang oder der Leibfeindlichkeit)?

Nach außen hin mag unser Handeln ja bisweilen konfus und willkürlich aussehen, doch ist das wirklich "Freiheit", ist das nicht nur das Resultat von genau dem, was uns bisher geformt hat?

Es ist doch wohl nie so, dass wir auch nur in der geringsten Angelegenheit sozusagen unmotiviert, also wirklich frei, handeln - machen wir uns nicht überall unsere Gedanken und sind bisweilen sogar völlig blockiert, wenn etwas von uns verlangt wird, was unserem bisherigen Denkschema oder Realitätsbewusstsein widerspricht? Und selbst wenn die Ratschläge noch so vernünftig klingen, haben wir eben dennoch nicht die innere Freiheit, sie zu befolgen, wenn sie einfach nicht in das jeweilige allgemeine Meinungsklima oder in den jeweilig aktuellen Gruppenzwang und vor allem nicht in unser Bewusstsein hineinpassen, und irgendwie ist das ja auch immer ein Schema von Gut und Böse, das in einer jeweiligen Kultur üblich ist. Sicher, beim Aufbau dieses Bewusstseins hätten entsprechende Informationen ja vielleicht etwas bewirken können und wir hätten sie auch angenommen, doch es gab sie eben nicht oder nicht in der rechten Weise. Also ist es nicht verwunderlich, wenn wir uns später ihnen gegenüber auch stur stellen! Wenden wir einmal diese Gedanken auf so manche heutige Praxis an:

Freiheit im Sinn von freiwillig Freiwild sein - das kann´s doch auch nicht sein! Oder auch: Nur die Dummen sind wirklich frei, denn die scheren sich nicht um die Folgen ihres Handelns! Und es gehört doch zu einem Sozialstaat, dass für die negativen Folgen andere aufkommen müssen. Ob das allerdings wirklich eine autonome Moral ist?

Der moderne Begriff Aushandlungsmoral klingt zwar nach Freiheit, weil man miteinander frei aushandelt, wie man sich etwa über alle Vorstellungen von Gebrauch und Missbrauch in der Moral hinwegsetzt. Doch hat das genauso wenig mit Freiheit zu tun, wie wenn jemand meint, frei zu sein, Drogen zu nehmen: Man rutscht nur "freiwillig" in die nächsten Abhängigkeiten hinein und muss schließlich doch die Suppe auslöffeln! Es ist nun einmal so: Je mehr und je bessere Informationen man über eine Sache hat, desto zielgerichteter und bewusster geht man an sie heran und scheint damit allerdings auch für andere weniger frei. Wer etwa noch nie etwas vom Gespräch 2 oder auch vom Gspräch 35 (die mit dem "Jungfrauenknacker") oder etwas Ähnliches gehört hat, wird so manche Anmache für eine Einladung zu einer wundervollen Romantik halten und vielleicht auch zu mehr einwilligen, wer diese Gespräche kennt und sie auch entsprechend verinnerlicht hat, wird sich stattdessen an den Kopf fassen und natürlich nicht mehr die Freiheit haben, darauf einzugehen und mitzumachen. Auf der anderen Seite kennt derjenige allerdings die Spielregeln der Moral und hat also auch die Freiheit, bei seinem Bad im Meer auf die üblichen Verklemmungsfetzen zu verzichten, weil er weiß, dass so schon "gar nichts passiert" und die Ängste, die mit der Nacktheit zusammen hängen, nur Herrschaftsinstrumente sind! Es ist eben wie mit dem Auto fahren: Je weniger man es kann, desto größere Freiheiten bei irgendwelchen verrückten und chaotischen Fahrweisen hat man (man kommt allerdings nicht weit, sondern landet recht schnell im Straßengraben und demoliert alles) - und je besser man es kann, desto mehr kann man es beherrschen und sich dienlich machen und viel mehr damit anfangen - und hat schließlich auch die "Freude am Fahren"!

Und nicht nur für Christen dürften die sinnvollsten Spielregeln der Freiheit für´s Leben die (allerdings richtig verstandenen) Zehn Gebote sein!

Wahrscheinlich ist die Theorie von der Willensfreiheit Bestandteil aller für das Patriarchat typischen Religionen, denn nur denjenigen, der wirklich frei handelt, trifft auch eine Schuld, wenn er etwas falsch macht, und ein Gefühl von Schuld oder ein schlechtes Gewissen sind nun einmal notwendig, damit für das Angebot der Vergebung der Religionen Bedarf ist.

Ist der Mensch also doch nur ein Computer (oder besser Prozessrechner) wenn auch ein höchst komplizierter und komplexer? In diesem Konzept wird der Mensch tatsächlich so gesehen - siehe auch unter Kybernetik. Immerhin: Wenn wir für das Gewissen das Bild einer Waage (einer mit zwei Waagschalen) wählen, dann können wir sagen, dass sich ein Mensch in einer Situation je nachdem entscheidet, welche der Waagschalen schwerer wiegt. Zu den „Gewichten“ zählen dabei Erziehung, Kultur, Veranlagung, Erfahrungen, Vorteile, Situation, Angst vor Strafen usw. Und welcher Pädagoge (oder Medienarbeiter usw.) nun weiß, dass es keine Willensfreiheit gibt, der kann jedoch versuchen, die gute Waagschale durch Information und Abbau von Ängsten schwerer zu machen, vor allem durch Hilfe bei der Überwindung der Geist- und der Leibfeindlichkeit.

Und wenn wir uns jetzt nach der Schuld fragen, dann trifft eine Schuld allenfalls denjenigen Pädagogen, der das mit der Waagschale eigentlich wusste oder hätten wissen müssen und der nichts Geeignetes bei den ihm anvertrauten Menschen getan hat.

In einem Beitrag der WELT vom 29.12.2003 "Schimpansen schwindeln selten" beschreibt die Verfasserin Antonia Rötger das Problem so: Der Neurobiologe Gerhard Roth von der Universität Bremen hält den freien Willen ohnehin für eine Illusion, die allerdings positive Auswirkungen auf unser Zusammenleben mit anderen hat, weil sie uns zu sozialverträglichen Entscheidungen drängt. In Wirklichkeit, also aus neurobiologischer Sicht, werden dagegen alle Entscheidungen schon im Voraus quasi bewusstlos, auf der Basis von früheren Erfahrungen, getroffen. Bewusstsein und freier Wille könnten genauso gut nachträgliche "Erklärungen" für unser biologisch gesteuertes Verhalten sein, dafür gibt es einige experimentelle Hinweise. "Wir können zwar tun, was wir wollen, aber nicht wollen, was wir tun", hat es Wolfgang Prinz vom Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung in München einmal sehr anschaulich formuliert. Einig sind sich fast alle Wissenschaftler darüber, dass es ohne ein soziales Miteinander weder Bewusstsein noch Willensentscheidungen zwischen Gut und Böse gäbe. Vollständige Url. des Artikels: http://www.welt.de/data/2003/12/29/216324.html

Leider haben nun die Ideen von der Willensfreiheit komplett in unser Christentum Eingang gefunden mit Berufung auf die Bibel, obwohl Jesus überhaupt keine Lehre über diese "Freiheit" aufgestellt hat. 

Selbst der Apostel Paulus hat den Begriff der Freiheit nur im Sinn von Freiheit von der Sklaverei der Sünde verwendet, was nur als Befreiung von den glückzerstörenden und entwürdigenden Zuständen, auf die Jesus gestoßen war (siehe Lehre DES Jesus), und daher auch als Befreiung von einer Sklavenmoral ganz allgemein gedeutet werden kann. Und das ist etwas völlig anderes als Willensfreiheit! Solche Freiheit gehört tatsächlich zum Anliegen von wirklichem christlichen Glauben, denn nur damit ist wirkliche Emanzipation möglich, die uns hinführt zur höchstmöglichen Einheit von Leib und Seele und damit zu wirklicher Liebe. Zu dieser Freiheit gehört dann auch die Freiheit von äußerem Zwang, die Freiheit von einschränkender Information, die Freiheit von rassen-, klassen- und geschlechtsbedingten Fesseln. Und die Hinführung zu dieser Freiheit mit den Mitteln göttlichen Geistes (siehe heiliger Geist) ist auch das Anliegen der Bibel. Siehe hierzu das fiktive Gespräch 11 zwischen Jesus und Augustinus und die Utopie eines wirklich freien Marktes auch im Hinblick auf die Partnerwahl.

Ausflug in die Literatur - oder "Das Elend der christlichen Religion": Dostojewskis Großinquisitor (siehe Inquisition) kann sich solche Freiheit allerdings nicht vorstellen und verurteilt Jesus, dessen Ziel die Freiheit des Menschen ist. 

Und ich meine doch, dass Jesus Recht hat und dass diese Freiheit, wie Dostojewski sie sieht (und auch ich!) möglich ist, nur wir müssen eben auch konsequent sein und den christlichen Glauben so verkünden, wie Jesus ihn wollte und nicht diesen ganz offensichtlich dualistisch (siehe Dualismus) und gnostisch (siehe Gnosis) und mit anderen Religionen und Weltanschauungen verfremdeten (siehe Synkretismus)! Es geht eben auch ohne Prügelstrafe oder Ähnliches - und noch viel besser! (Eine aktuelle Parallele ist die Geschichte vom Pferdeflüsterer: Angeblich müssen Pferde sadistisch gequält und gebrochen werden, um sie zu zähmen. Und da kommt ein 7jähriger Junge auf die Idee, dass man die Zähmung auch erreichen kann und viel besser, wenn man das Vertrauen der Pferde gewinnt.) Eine Information zu der Textstelle bei Dostojewski finden Sie unter http://www.sandammeer.at/rezensionen/dostojewskij-gro%DFinquisitor.htm. Und weil dieser Link manchmal nicht funktioniert, hier der Text (schauen Sie mal rein, doch hören Sie auf zu lesen, wenn Sie keine Lust mehr haben, Sie wissen ja, wo´s steht):

Fjodor Dostojewskijs "Der Großinquisitor" ist die fiktive Erzählung vom Elend menschlichen Freiheitsstrebens und der allen Freiheitsanspruch relativierenden historischen Tatsache, vom oftmaligen Versagen des zur Erkenntnis von Gut und Böse ermächtigten - also freien - Menschen. Wobei es sich eigentlich nur um eine kurze Sequenz aus dem fünften Buch des epochalen dostojewskijschen Romans "Die Brüder Karamasow" handelt, die jedoch ihrer Sprachgewalt und ihrer gedanklichen Tiefe wegen zum eigenständigen Klassiker der Literaturgeschichte avancierte. Eigentlicher Handlungsinhalt ist ein Gespräch zwischen den Brüdern Iwan und Aljoscha Karamasow, welchem wiederum, als Geschichte in der Geschichte, die phantastische Idee einer Wiederkehr des gekreuzigten Jesus in das mittelalterliche Spanien zugrunde liegt. Solcherweise treffen zwei existenzielle Grundauffassungen von menschlicher Daseinsbestimmung aufeinander, als der schon greise Kardinal-Großinquisitor von Sevilla, verantwortlich für den Flammentod hunderter vorgeblicher Häretiker, seinen biblischen Herren sehr wohl erkennend, nicht davor zurückscheut diesen sofort in Haft setzen zu lassen. Angeklagt ist Jesus des schwersten Verbrechens aller Zeiten, nämlich des leichtfertigen Freiheitsversprechens an die Menschheit wegen, das diese nicht zu realisieren imstande ist, worum der Gottessohn hätte wissen müssen und deswegen er mit dem Flammentod zu bestrafen sei. Um dies dem Wiedergekehrten zu verdeutlichen und um ihm seine baldige Hinrichtung am Scheiterhaufen anzukündigen, begibt sich der Großinquisitor zu dem Inhaftierten ins Verlies, wo er in Gegenwart des schweigenden Heilands über die Bitternis seines Daseins als guter Hirte von zur Freiheit verhetzten wesenhaft Unfreien monologisiert. Er, Jesus, hätte den Menschen zur Rebellion angestachelt, ihm die Mär von der eigenen Souveränität verheißen, wo er doch gewusst hätte, dass die überwiegende Mehrzahl der Gattung Mensch von unreifer Gemütsart sei, nie und nimmer dazu berufen, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Es sei nun die heilige Aufgabe der römischen Kirche, aus Liebe zum Menschen und im Namen Jesu, die dem Menschen einzig dienliche (hierarchische) Ordnung wieder herzustellen und hinkünftig mit - wenn nötig - drakonischen Methoden vor rebellischer Erschütterung zu bewahren.

Man merkt die Absicht, man ist erstaunt, denn der Großinquisitor rechtfertigt mit leidenschaftlicher Rede die Gräuel des Hexenwahns, das tausendfache Morden zum höheren Ruhme Gottes, einzig mit der vorgeblichen Liebe zum Menschen und er, der Betreiber zahlloser grausamer Hinrichtungen, ausgerechnet er bezichtigt Jesus, seinen Herren, der eigentlichen Verantwortung für die Verbrechen der Heiligen Inquisition. Ein - angesichts geschichtlicher Fakten - gleichermaßen empörender wie faszinierender Gedanke, dessen Gefährlichkeit jedoch darin liegt, kriminelle Taten mittels ethischer Rationalisierung nachträglich zur Menschenliebe zu verklären und solcherart eine wohl völlig ungerechtfertigte Entkriminalisierung
inquisitorischer Machtpolitik einzuleiten, der es tatsächlich nie um das Seelenheil der ihr anvertrauten Völker als viel mehr um Herrschaft über diese Völker gegangen ist, die es mit Methoden blanken Terrors zu stabilisieren galt. Und man merkt, wie weit sich der reaktionäre Denker Dostojewskij mit diesem Gedanken selbst von geltender christlicher Dogmatik und ihrem Primat der in der Person Jesu begründeten Nächstenliebe entfremdet, sinniert er doch, wenn auch vermittels der finsteren Romanfigur, über den rebellischen Charakter Jesu, der sich gegen die göttliche Ordnung seines himmlischen Vaters wendet, mit dem er doch in Dreieinheit verbunden sei. Besagt das Trinitätsdogma denn nicht, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist dreieinig sind, und dass für die Menschwerdung Gottes, für Jesus, zentral die Erfüllung des Willens Gottes in Liebe war? Der Großinquisitor jedoch konstruiert einen fundamentalen Widerspruch zwischen Vater und Sohn, zwischen dem Heiligen Geist des Vaters und dem rebellischen Geist des Sohnes. An den Heiligen Geist glauben heißt, an Gottes wirksame Macht und Kraft in Mensch und Welt glauben. Der transzendente Gott, so kann man sagen, ist dem Menschen nahe (näher als seine Halsschlagader), gegenwärtig im Geist, durch den Geist, als Geist. Der Heilige Geist ist somit die Wirkmacht Gottes im Menschen, die Immanenz des Transzendenten im Seienden. Doch Jesus tritt gegen dieses Seiende an und verspricht ein anderes Sein, ein Sein in Freiheit, basierend auf seiner Liebesbotschaft. Dass er dieses wider besseres Wissen gegebene Versprechen nicht halten kann, somit jedoch Unruhe stiftet, eine Unruhe, welche unendliches Elend zu Folge hat, ist nach Auffassung des Großinquisitors ein todeswürdiges Vergehen, weil Tausende und Abertausende daran grausam zugrunde gehen. Ein unseriöses Versprechen, das nur für eine kleine Elite von Befähigten taugen kann, jedoch an alle gegeben wird, ist an sich schon kriminell, weil es zu selbstschädigendem Verhalten anleitet und die gesellschaftliche Ordnung unterminiert.

Und so zerstört der Inquisitor die Einheit von Gott-Vater und Gott-Sohn, säubert das Bild himmlischer Herrschaft, die selbstherrlich Gnade gewährt oder auch nicht, vom utopischen Liebesbegriff Jesu Christi, der gleichmäßig allen verzeiht, doch dessen Liebe nach der Überzeugung des Kardinals als weltfernes Prinzip die Lebenswirklichkeit des Menschen belastet. Handelte hingegen Jesus in Übereinstimmung mit dem Heiligen Geist, so wendet sich die Anklage gegen Gott selbst und impliziert als solche die atheistische Forderung nach dem Tod Gottes. Wie auch immer der Kardinal seine Jesuskritik verstanden haben möchte, im Vordergrund steht sein Dienst am Menschen, nicht an Gott. Dafür ist er selbst noch bereit ein Leben in Lüge zu führen.

Abgründe tun sich auf, wenn man diesen Text liest, der gewiss als geharnischte Kritik des
Jesusbildes der Evangelien zu deuten ist, da die freie Wahl zwischen Gut und Böse, die Christus der Menschheit vermacht hat, für diese ein Fluch sei, eine vererbte Last, die es mit autokratischen Methoden zu korrigieren gilt. Und zwar hat diese notwendige Korrektur der christlichen Frohbotschaft durch die christlichen Kirchen selbst zu erfolgen, indem sie das authentische Jesusbild verfälschen, aus dem befreienden Jesus einen knechtenden Jesus machen, stellvertretend für einen Gott, der nicht die Erhöhung sondern die Erniedrigung des Menschen um seiner selbst Willen begehrt.

In einem Brief an Mme Fonvísina bekannte sich Dostojevskij zu seinem unterschwelligen Nihilismus, wenn er zu seinen Romanen feststellte: "Sogar Europa hat noch keinen so machtvollen Ausdruck des Atheismus gekannt ..." Und zweifelsohne, aus der Idee zur Legende vom Großinquisitor ist ebenso eine Absage an den liebenden Gott zu erkennen, wie eine kaum verhohlene Verachtung des realen Menschen, die in das Bekenntnis zu einer autokratisch verfassten Gesellschaftsordnung mündet, welche nicht einfach nur als bloße Prosa eines grollenden Misanthropen verkannt werden sollte. Tatsächlich neigte gerade der alternde Dostojevskij zu reaktionärer Gesinnung (der 1821 geborene und 1881 verstorbene Russe, verfasste sein Alterswerk "Die Brüder Karamázov" während der Jahre 1878-1880). Über die Hinwendung zu einem slavophilen Nationalismus sollte er schließlich eine Aussöhnung mit dem Gesetz des Evangeliums Christi finden, wobei die damit verbundene Zuwendung zur Religiosität russisch-orthodoxer Prägung zwar unter dem Titel der Menschenliebe erfolgte, tatsächlich jedoch autokratischen Charakters war, was frappierend an die ebenso autokratische Haltung des Großinquisitors erinnert. Es kann nicht als gesichert gelten, dass sich Dostojevskij vollkommen mit der Position des Großinquisitors identifizierte, denn, die Figur wird von Aljoscha und Ivan durchaus kontrovers diskutiert und sein Gegenpart Jesus mag zwar zum Schweigen verdammt sein, doch wer würde anzweifeln, dass es sich um einen prominenten Schweigenden handelt. Man würde also vorschnell handeln, das Denken des Autors mit dem Denken seines literarischen Geschöpfs in Eins zu setzen, doch sprechen insbesondere biographische Fakten für eine weitgehende Übereinstimmung Dostojevskijs mit der Gedankenwelt des Kardinal-Großinquisitors. So lehnte er den faustischen Impuls des Westens, seinen mit der demokratischen Idee verbundenen Liberalismus genauso ab wie die allgemeine kapitalistische Entwicklung und emanzipatives Streben der Einzelnen. Dem hielt er die Erdverbundenheit und demütige Religiosität des russischen Menschenschlags entgegen, dessen Sendung es sei "... endgültige Versöhnung in die europäischen Widersprüche zu bringen, der europäischen Sehnsucht den Ausweg zu zeigen in der russischen Seele, der allmenschlichen und allvereinenden, ..." Entschiedener kann man tatsächliche gesellschaftliche Widersprüche und soziale Missstände nicht mehr ausblenden. Und dieser russische Mensch, an dessen Wesen die Welt genesen soll, entspricht er nicht genau des Großinquisitors Menschenideal? Und - um es noch schärfer zu formulieren - vertrat nicht der Klerikalfaschismus des 20. Jahrhunderts ein sehr ähnliches Menschen- und Gesellschaftsbild?

Bei aller - freilich immer perspektivischen - Kritik am Geist (man ist geneigt "Ungeist" zu sagen), der aus der Legende vom Großinquisitor spricht, handelt es sich doch um einen brillant verfassten und mutig gedachten Text, dessen tiefgründiges Verständnis christlicher Liebesmystik und kirchlicher Wirklichkeit einfach faszinieren muss und als analytische Wirklichkeitsbeschreibung religiöser wie schlechthin menschlicher Tatsachen jedenfalls ernst zu nehmen ist. Der Monolog des Kardinal-Großinquisitors führt wahrlich zu einem tieferen Verständnis christlicher Glaubensproblematik, und ist daher geeignet, bis in unsere Tage fortgesetztes, feindseliges Lagerdenken innerhalb der christlichen Kirchen aus der Erhellung widersprüchlicher Vorstellungen von christlicher Nächstenliebe zu begreifen. Für den literarisch Gebildeten sollte "Der Großinquisitor" sowieso obligatorischer Bestandteil seiner kulturellen Ausstattung sein, vorausgesetztes Bildungswissen, zumal es sich ja um rasch gelesene Kurzprosa handelt, für die jedermann einmal knappe zwei Stunden der Lektüre erübrigt haben sollte.

Es ist eine Freude, dass dieses große Werk der Weltliteratur auch auf Musikkassette in ungekürzter Fassung als Lesung vorliegt, als sogenanntes sprechendes Buch, womit auch abstinenten Lesemuffeln geholfen sein mag. Eine wunderbar gelungene Lesung übrigens, gehalten von Klaus-Dieter König, der seine Begabung zur vortragenden Lesung dem Texterleben unterordnet und solcherart dem Hörer ein ungestörtes, doch recht bequemes Erfahren von Literatur ermöglicht. Wer nun nach einem anstrengenden Arbeitstag keine Muße findet sich auch noch, nach vielleicht stundenlangem Aktenstudium, mit schon ermüdeten Augen ein Buch anzutun, der möge sich in der Badewanne entspannen, zur Lesung der Legende vom Großinquisitor. Es ist selbst noch kein Frevel, sich ein Buch beiläufig während der Autofahrt oder wie auch immer zu erhören, vor allem wenn es so meisterlich vorgelesen wird. Wesentlich ist viel mehr, dass man diesen absoluten Klassiker der Weltliteratur erfahren hat, nicht um der literarischen Selbstbereicherung wegen, sondern wegen des gleichermaßen tiefen wie ebenso widerborstigen Erkenntnisreichtums, welcher in dieser Legende um Freiheit und Liebe enthalten ist.

(Harald Schulz; 17. Juni 2002)

Fjodor Dostojewskij: "Der Großinquisitor"
Steinbach sprechende Bücher.
Hörkassette, ca. 70 Minuten.
ISBN 3-88698-079-0

ca. EUR 15,-. Hörkassette bestellen

Fjodor Dostojewskij: "Der Großinquisitor"
Gebundene Ausgabe. 95 Seiten.
Ammann Verlag Zürich, 2001.
ISBN 3-250-20002-6.
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Mehr zu Dostojewski unter: http://www.sandammeer.at/zeitloses/dostojewski.htm

Anmerkung des Verfassers dieser Website basisreligion: Auch ich hatte ja einmal so ein "Inquisitionsverfahren" (wie man das Verfahren zum Entzug der Missio auch nennen kann). Ich kenne also die Wirklichkeit. Die Vorstellung, dass ein Verfahren so ablaufen könnte wie bei Dostojewski, ist allerdings wirklich reine Dichtung! Die Wirklichkeit war platt und primitiv: Meinem "Inquisitionstribunal" ging es um an den Haaren herbeigezogenen Lächerlichkeiten (hinter denen bewusste Missverständnisse standen, nicht zuletzt ging man auf meine Richtigstellungen gar nicht ein) und wirklich nicht um Wesentliches wie bei Dostojewski. (Wörterbuch von basisreligion und basisdrama)

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