RECHT DER ERSTEN NACHT (Basislexikon: kompetent-kritisch-konstruktiv)

Das RECHT DER ERSTEN NACHT (lat.: ius primae noctis) seit dem Mittelalter bis in die Zeit des Absolutismus (also bis vor etwa 200 Jahren) besagte, daß der Herrschende das Recht hatte oder besser, sich das Recht heraus nahm, vor der ersten Nacht (der "Hochzeitsnacht") der ihm untergebenen Frauen (vor allem seiner Dienerschaft) deren Entjungferung vorzunehmen. Denn ein solches Recht war natürlich nie schriftlich fixiert und es war auch eindeutig ein totaler Verstoß gegen die christliche Moral und obendrein war es noch ein geradezu unverschämtes Instrument der Macht der damaligen Establishments gegenüber ihren Untergebenen. Die, die das Sagen hatten, nutzten dabei gerade auch die Ahnungslosigkeit und die Verklemmtheit etwa der damaligen Dienstädchen. Und es war seinerzeit schließlich gar nicht einfach, die Menschen, auch und gerade die Mädchen, zum Widerstand dagegen zu ermuntern. Die Mädchen bildeten sich wohl auch noch etwas darauf ein, ihre erste Nacht Nächte mit einem hohen Herrn in einem fürstlichen Bett verbringen zu dürfen, ob sie sich allerdings klar waren, was da wirklich passierte? Mozart hat seine Oper "Figaros Hochzeit" gegen dieses "Recht" geschrieben; nur mit guten Einfällen und viel Humor in dieser Oper konnte er so bei seinen Zeitgenossen - er sprach besonders junge Leute an - für sein Anliegen Gehör finden (siehe Kulturproduktion).

Bei jungfräulichen Mädchen waren sich die hohen Herren sicher vor der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten.

Eine der Ursachen dieses "Rechts" war gewiß das Bedürfnis nach Seitensprüngen der Herrschenden, die ja oft aus Gründen der Staatsräson eine Ehe führten, die nach der Art von arrangierten Ehen eingefädelt war. Da sie indes Furcht vor Geschlechtskrankheiten (insbesondere der Syphilis) hatten, nutzten sie zunächst einmal ihre Macht und wählten für ihre Affären die frischen und damit wahrscheinlich noch gesunden Töchter ihrer Untergebenen oder die jugendlichen Angestellten. Bei denen würden sie sich ja vermutlich nicht anstecken. Wir können uns heute die Bereitschaft früherer Menschen, derartige Unverschämtheiten von oben zu dulden und sogar noch dabei mitzumachen und die Betroffenen nicht zu warnen, nur aus ihrer Sklavenmoral heraus erklären. In der Folge kam es dann auch immer zu neuen arrangierten Ehen, wenn nämlich die geschwängerten Mädchen an Höflinge usw. verkuppelt wurden, wodurch auch die jeweiligen Kinder versorgt wurden.

Der Brauch des Rechts der ersten Nacht trug ganz gewiß mit zum negativen Ruf von Moral  im Zusammenhang mit der Sexualität überhaupt bis heute bei. Aufgabe der Moral war ja eben nicht mehr, den jungen Menschen Wege zu ihrem wirklichen Glück zu weisen, sondern sie für die Lustbarkeiten ihrer Herren frisch zu halten. Sexualmoral konnte so ja nie im Zusammenhang mit Emanzipation und von wirklichem Manselbstsein empfunden werden, sondern im Gegenteil nur mit Abhängigkeit und Ausbeutung, von der man sich besser je gründlicher und je schneller befreite als eben nur möglich. Wie sollte solche Moral denn auch als Wert für menschliches Selsbstbewußtsein und für höheren Egoismus gesehen werden, war sie nicht geradezu Kennzeichen für die Manipulation unfreier Menschen durch eine Ausbeuterschicht mit allen möglichen Ängsten, Tabus und Verboten?

Wir beklagen heute, daß sich in der Zeit des Nationalsozialismus den Kirchen vor allem um den Erhalt ihres Systems ging. Doch das war schon immer so: Den Kirchen ging es natürlich auch bei den Recht-der-ersten-Nacht-Praktiken nur um den Glauben.

Es ist für unseren christlichen Glauben kein Ruhmesblatt und nicht verzeihlich, daß auch sie den Brauch des Rechts der ersten Nacht zumindest geduldet und durch Unterlassung geeigneter Aufklärung die jungen Menschen ihren hohen Don Juans damit indirekt zugeschanzt hat (es soll sogar Bischöfe gegeben haben, die in ihrer landesherrlichen Funktion dieses "Recht" wahrnahmen). Freilich paßte es in ihr System der Dogmatik, hat sie nicht letztlich die Schwachheit der Menschen sozusagen von vornherein zum Lehrsatz gemacht und schließlich noch mit ihrem Geschäft von Vergebung und von Versprechungen und Vertröstungen bei alledem wie auch vorher und nachher profitiert?

Und da dieses Geschäft so gut florierte, gab es bis heute keinen Grund, die Erziehungsmodelle, die solche perverse Moral erst ermöglichten, zu hinterfragen und sie etwa von dem schädlichen Ballast (wie den ganzen Halbherzigkeiten unseres Glaubens, also etwa der Scham und den Un-Glaubwürdigkeiten) zu befreien und auf eine Basis eines wirklichen heiligen Geistes zu stellen (siehe halbe Sachen). Im übrigen brauchen wir uns über die Uneinsichtigkeit früherer Menschen heute gar nicht zu entrüsten, haben nicht auch heute noch viele junge Leute geradezu Komplexe, sich lächerlich zu machen, wenn sie darauf bestehen, daß sie jungfräulich in die Ehe gehen wollen (siehe Jungfrau), weil auch gerade der erste Geschlechtsverkehr nur dem lebenslangen Ehepartner zusteht?

Über zerbrochene Lebenshoffnungen redet niemand...

In der Oper "Don Giovanni" von Mozart erfahren wir von der zärtlichen Variante des Rechts der ersten Nacht: "Reich mir die Hand mein Leben, komm auf mein Schloß mit mir...", doch verbreiteter war wohl die derbere und eher vergewaltigende Variante. Wie diese noch Mitte des 20. Jahrhunderts praktiziert wurde, wird in einem Roman, der in Ostpreußen kurz vor dem Krieg und im Krieg spielt, beschrieben. Doch so etwas gab es in dieser Zeit nicht nur in der "kalten Heimat", also im abgelegenen Ostpreußen, das gab es gewiß in ganz Deutschland. Mir wurde mehrfach berichtet, daß auf den Gütern westlich von Köln in derselben Zeit Ähnliches passierte: So hatte einer dieser Gutsherren hier rote Haare und es gab auf dem Gut viel mehr Kinder mit roten Haaren als seine offiziell eigenen. Man beachte in der "Erzählung" aus Jokehnen, in welch gleichgültiger Weise über die Affären des Majors geredet wird und daß auch niemand Unrechtsbewußtsein und Zivilcourage hat, endlich einmal ein Mädchen rechtzeitig zu warnen, es geht eben nur um ein Stubenmädchen und es ist sind eben nur ein Kavaliersdelikt (in Wirklichkeit jedoch eine regelrechte "Vergewaltigung einer Abhängigen", schon damals nach § 174 ein strafwürdiger Tatbestand). Und vor allem wegen der Tabuisierung auch in unserer Religion (weniger die Tat selbst scheint oft als eine Sünde, sondern wer darüber redet, der ist lästig und macht sich schon deswegen viel mehr sündig) hält sich das alles so lange - siehe auch das zweite Schaubild im Stichwort Religionskritik, das paßt hier wirklich!. Alle sind sie irgendwie schon hartherzig und entweder Täter (siehe Täter und Opfer) oder Duckmäuser (siehe Spießer) - es ist wie bei einer Mafia! Dabei ist der Major wirklich kein Unmensch, mit Hitler hatte er etwa nichts zu tun, und sein Sohn wurde sogar im Zusammenhang mit dem Aufstand am 20. Juli 1944 hingerichtet. Dafür hatte der Melker August offenbar diese Geschichte nicht verkraftet. Er ging bald nach dieser Geschichte zur SS und es gab ein Bild von ihm, wie er bei der Zerstörung des Warschauer Ghettos Juden zusammen trieb. Bei Kriegsende wurde er von Polen (?) ergriffen und aufgehängt.

Doch hier die "Geschichte" (zum Verständnis: Ostpreußen ist seit der Reformation normalerweise evangelisch, lediglich ein kleiner Teil, nämlich das Ermland, ist katholisch geblieben. Und: Der Gutsherr hatte während seiner früheren militärischen Dienstzeit den Rang eines Majors und wir jetzt immer nur mit seinem Rang genannt. Und: Der Bauer Steputat ist sozusagen im Nebenberuf Bürgermeister, wie das früher so üblich war.):

Das Recht der ersten Nacht in Jokehnen aus „Jokehnen oder wie lange fährt man nach Ostpreußen“ von Arno Surminski (rororo 780, 1985, S. 24ff)

Zu Martini 1936 stellte der Major ein Stubenmädchen für den Gutshaushalt ein, Anna, eine Schwarzhaarige aus dem katholischen Ermland. Das wiederholte sich Jahr um Jahr, denn die Stubenmädchen des Gutes verschwanden stets auf merkwürdige Weise: sie wurden geheiratet. Anna besah melancholische Augen und volle Brüste, Äußerlichkeiten, die ihre Bewerbung unterstützten. Niemand warnte Anna. Die Mamsell wußte es, schwieg aber wie in allen Jahren. Sogar der Frau des Majors war bekannt, warum die Stubenmädchen des Gutes so häufig wechselten. Der kleine Blonski wußte es und Kämmerer Mikoteit, aber sie verspürten beinahe Schadenfreude, als sie das ahnungslose Mädchen mit ihrem Koffer von der Bushaltestelle kommen sahen. So blieb Anna ahnungslos, bis der Major eines Nachts in ihrem Zimmer stand, mit Reithose und Stiefeln bekleidet, wie er gerade von der Jagd gekommen war. Sie schrie vor Schreck, aber das Schloß besaß dicke Wände, und Annas Zimmer lag im äußersten Südflügel.

Der Major bekam seine Genugtuung. So war der Lauf der Welt in Jokehnen. Warum sollte es Anna anders ergehen als den vielen Stubenmädchen vor ihr? Auf diese Weise erhielt der Major immer wieder die Bestätigung, trotz seiner 66 Jahre ein vollwertiger Mann zu sein. Es überkam ihn stets im Spätherbst, wenn die langweiligen ostpreußischen Winter begannen, wenn er auf seine Ausritte verzichten maßte, weil die Wege grundlos oder zugeschneit waren. Begonnen hatte es in jenem Jahr, in dem seine Frau den Winter über mit einer hartnäckigen Lungenentzündung und einigen Rückfällen zu ringen hatte. Damals brachte sie Verständnis für ihn auf, aber der Major blieb dabei, auch als die Lungenentzündung abgeklungen war. Mit Anna hätte es trotzdem gut ausgehen können, wenn sie nach jener Nacht ins Ermland zurückgekehrt wäre. Aber sie wagte es nicht. Es war ihre erste Stellung. Zu Hause würde es einen fürchterlichen Krach geben, wenn sie davonlief. Sie wußte auch nicht genau, ob das, was der Major von ihr verlangte, zu ihren Pflichten gehörte. Vielleicht mußte sie das über sich ergehen lassen.

Im neuen Jahr blieb die Regel aus. Erst glaubte sie nicht daran, aber als ihre Brüste prall wurden, gab es keinen Zweifel mehr. Jetzt erst begriff Anna, was über sie gekommen war. Der Major zeigte großes Verständnis. Er strich ihr, die einzige Zärtlichkeit, die er sich in der ganzen Zeit vergab, über das lange, schwarze Haar. Tags darauf ließ er den Melker August in sein Zimmer rufen. Das wer ein baumlanger Kerl mit Armen, die einen Stier in die Knie zwingen konnten. August blieb auf der Schwelle des Arbeitszimmers stehen und drehte seine speckige Melkermütze in der Hand.

"Hast schon ´ne Margell zum Heiraten?"  fragte der Major.

August grinste verlegen.

"Unser Stubenmädchen, die schwarze Anna, will dich."

Da blieb dem Mann der Mund offen. Er hörte auf, die Mütze zu drehen, konnte es nicht verhindern, daß die Röte ihm ins Gesicht stieg. Nein, es war nicht zu glauben, daß die schwarze Anna ihn mochte.

Der Major überließ ihn eine Weile seinen Phantasien, dann fuhr er bedächtig fort: "Sie bekommt aber schon was Kleines .Das macht dir doch nuscht aus, August?"

Der Melker kniff für eine Sekunde die Augen zusammen. Hatte er sich gleich gedacht, daß da noch irgend etwas war. Aber die Vorstellung, die schwarzhaarige Anna unter sich zu bekommen, überwand den aufkommenden Unwillen.

"Nee, gar nuscht, Herr", sagte er.

"Es soll auch dem Schaden nicht sein. Du bekommst die Deputatwohnung am Park. Wenn der Obermelker geht, bist du Obermelker von Jokehnen."

August glaubte, das Geschäft seines Lebens gemacht zu haben. Er polterte mit Riesenschritten die Treppe hinunter, rannte ‑ ja der große, mächtige Kerl rannte im Trab ‑ über den Gutshof zum Kuhstall. Hätte es gern den glotzenden, stumpfsinnigen, trägen Tieren in die Ohren geblasen, daß er die schwarze Anna bekomme. Wie besessen lud er Kuhmist auf, schob Karre um Karre nach draußen.

Bis dahin zeigte sich nichts Ungewöhnliches an dem Fall der katholischen Anna aus dem Ermland. So waren schon Förster Wiehn zu lebenslanger Anstellung und einer Frau gekommen, einige Vorarbeiter, der Gutsgärtner und der Speicherverwalter. Aber bei Anna gab es Schwierigkeiten. Als sie den riesigen, muskelbepackten  August sah, erschrak sie. Die Vorstellung, mit ihm fortzusetzen, was der Major begonnen hatte, ließ sie zittern. Nein, sie müßte diese Heirat ausschlagen! Das war neu für Jokehnen. Das war noch nie da gewesen. Es überforderte auch das Verständnis des Majors, der ihr immer wieder sagte, wie gut er es mit ihr meine.

Anna wäre gern zu einem katholischen Pfarrer gegangen. Drengfurt hatte keinen. In Rastenburg mußte doch einer sein, ganz bestimmt aber in Rößel. Aber sie wagte nicht, um einen freien Tag für eine so weite Reise zu bitten. So blieb die Sache bei Karl Steputat hängen. Sie kam in der Dunkelheit und klopfte ans Küchenfenster, als Martha die Milchsuppe für das Abendessen rührte. Aus einem schwarzen Tuch blickten  übernächtigte Augen. Sie wollte nur mit Martha  sprechen, weil sie sich vor einem Mann schämte. Sie saß da auf dem Küchenschemel und sprach stockend, während der kleine Hermann unbeteiligt seinen Grießbrei löffelte. Das unschuldige Kind verstand noch nichts von dem, was in Annas Bauch vorging, durfte deshalb auch in der Küche bleiben, selbst als Anna zu weinen begann.

Als Martha es ihrem Mann berichtete, war Steputats erster Gedanke Abwehr. Das sind Fälle für einen Geistlichen oder Arzt, nicht für den Bürgermeister von Jokehnen. Was sollte er tun? Er nahm es dem fremden Mädchen ein wenig übel, daß es sich weigerte, den Melker August zu heiraten. Martha sah ihn an, wie sie ihn noch nie angesehen hatte.

Steputat fühlte, sie erwartete etwas von ihm. Für eine Weile kam er von dem Gedanken nicht los, daß es für den Major ein leichtes sein müsse, einen Königsberger Arzt zu finden und zu bezahlen. Aber dann erschrak Steputat selbst über so viel Kühnheit Er telefonierte mit dem Major, ein Anruf, der Steputat einige  Überwindung kostete, weil er sich dem Major stets unterlegen fühlte. Umso angenehmer, daß der Major sich bemerkenswert aufgeschlossen zeigte und nicht gleich lospolterte.

"Was soll ich denn machen, Steputat?" rief er in den Apparat. .Ich kann mich doch nicht scheiden lassen und ein Stubenmädchen heiraten."

Steputat versicherte dem Major, daß er dergleichen nie erwartet habe Er suchte Worte, mit denen er dem Major die Sache mit dem Königsberger Arzt nahe bringen konnte; aber der Major kam ihm zuvor.

"Abtreibung kommt überhaupt nicht in Frage. Ich will wegen einer solchen Affäre nicht ins  Zuchthaus."

Vielleicht hat sie nur was gegen den August", gab Steputat zu bedenken und fragte, ob der Major nicht etwas Besseres hätte.

"Unfug!" wurde der Major nun heftig. «August gehört zu meinen besten Leuten. Das ist eine treue Seele, das wissen Sie doch auch, Steputat."

Es blieb dabei. Steputat sollte dem Mädchen gut zureden, es von den Vorteilen einer Ehe mit dem Melker August überzeugen. Also gut. Steputat gab sich Mühe, holte weit aus, sprach von der Armut der Menschen auf dem Land, von dem Glück, ein sicheres Plätzchen und einen Ernährer zu haben. Alles andere sei dann nicht so wichtig.

Ja, ja, sie verstand ja alles, aber sie konnte doch diesen Ekel nicht hinunterwürgen, diesen Widerwillen gegen die Kraft und Gewalt, mit der August über sie herfallen würde. Schon der Gedanke an seine starken Hände verursachte ihr Schmerzen.

In seiner Ratlosigkeit eilte Steputat zum Schreibtisch und kramte den Fahrpaln für den Bus Angerburg‑Korschen heraus. Das Mädchen müßte nach Hause. In solchen Situationen wissen Mütter den besten Rat. Er setzte ihr umständlich auseinander, wie sie zu fahren und umzusteigen hatte, um ins Ermland zu kommen.

"Hast du Geld?" fragte Martha.

Anna schüttelte den Kopf. Ohne zu zögern, zückte Karl Steputat die Börse und gab ihr fünf Mark. Ohne Quittung. Auf Nimmerwiedersehen. Für den Spaß des Majors gestiftet. Anna nahm das Geld teilnahmslos, fast widerwillig.  Sie bedankte sich nicht einmal, als sie ging, was Steputat einigermaßen verwunderte.

"Mein Gott", sagte Martha, "der Major tut auch nicht gut an dem Mädchen.

Es war jene Nacht, als das Eis auf dem Dorfteich brach. Schon am Tage hatte das Tauwasser von den Dächern geleckt, der verbliebene Schnee war matschig und schwer geworden. Es donnerte ganz schon in Jokehnen, wenn das Eis brach. Die Risse reichten von der Schleuse bis zum Schilf, und am Morgen trieben die ersten Eisschollen der Schleuse zu. Das war ein Fest für die Dorjugend. Winterabschied. Wer Mut besaß, enterte eine Scholle und stakte mit langen Stetigen über den Teich, ein nicht ungefährliches Unternehmen, denn die morschen Schollen brachen leicht. Zum Schollenfahren gab es eine Stunde früher schulfrei, das war Tradition im Jokehner Frühling. Und alle Kinder standen um den Teich herum, warteten darauf, dass sich einer die Schlorren vollschöpfte. Am nächsten Tag bei einer Sohollenfahrt fanden sie Anna. Die Stange eines Jungen verfing sich in dem schwarzen Tuch. Er zog und sah für den Bruchteil einer Sekunde ihr bleiches Gesicht. Die Jungs markierten mit Stangen die Stelle, an der Anna aufgetaucht und wieder untergegangen war. Vom Gut kamen die Männer mit Heuharken und Forken, auch August war dabei. Nach einer Stunde fanden sie Anna, einen Steinwurf von der Schleuse entfernt. Sie zogen sie auf eine Eisscholle. Da lag das kleine Häuflein unter der wärmenden Märzsonnne. Melker August stand über der Toten und sah mit dumpfem Blick auf das zierliche Gesicht. Jemand brachte eine Pferdedecke. Sie warfen sie über die Leiche. Und dann trug man das tropfende, nasse Bündel hinauf zum Schloß.

Anmerkung: Es muß ja nicht immer so tödlich ausgehen. Von Leuten hier im Rheinland wurde mir auch erzählt, daß Mädchen, die mit ihrer Erfahrung nicht klar kamen und rebellierten, auch schon mal für geistig nicht zurechnungsfähig erklärt und in eine Irrenanstalt eingeliefert wurden. Auf alle Fälle: Welch himmelweiter Unterschied ist das alles zu dem, wie der alte Gandhi mit jungen Mädchen umging! Das war wirkliche Befreiung! Siehe unter Gandhi-Methode. Gandhi hatte in seinem Land mit seinem Kastenwesen übrigens ähnliche Probleme wie diese hier - und sie gibt es noch heute!

Hier nun der Versuch, dem Problem mit Humor und Ironie zu begegnen. Die "Ballade" stammt aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ostpreußen war noch eine deutsche Provinz - und Lyck und Stallupönen waren "tief-ostpreußische" Kleinstädte:

Male, die Unschuld vom Lande von Josef Wiener-Braunsberg

Achtzehn oder neunzehn Lenze zählt die Male,
Und sie war ein Mädchen von dem Land,
Dessen Wiege einst in einem stillen Tale
Zwischen Lyck und Stallupönen stand.

Unberührt von jedem gift´gen Hauche
Der Kultur blieb Males schlichter Sinn.
Zwischen Kuhmist, Schweinestall und Jauche
Floß das Leben friedlich und beschaulich hin.

Wandelnd auf der schmalen Tugendstraße,
Hielt die Male sich von allen Lastern fern.
I
hr Liebe weihte sie, in gleichem Maße
Dem Inspektor und dem gnäd´gen Herrn.

Male“, sprach der oft in väterlichem Tone,
"
Male, ziehe ja nicht in die Stadt,
Weil die Sittenreinheit zweifelsohne
Auf dem Lande einzig ihre Heimstatt hat!

Wendest du den Rücken unsern stillen Hütten,
Wo der Düngerhaufens holde Düfte wehn,
Dann, Marjell, ist es um deine Sitten
Und um deine Tugendreinheit schnell geschehn.“

Also suchte er mit manchem Für und Gegen
Sie zu fesseln an das stille Tal,
E
inesteils des bill´gen Lohnes wegen,
Andererseits von wegen der Moral.

Aber Male zeigte leider nicht Verständnis
Für die Veilchen, welche im Verborg´nen blühn,
Und in seelisch unbegreiflicher Verblendnis
Zog sie eines Tages nach Berlin!

Male, Male, warum warst du nicht geweckter?
Warum botest du dem Bösen deine Hand?
Wilhelm Schuster hieß er und war Bankdirekter,
Wo als Mädchen sie für alles Stellung fand.

Hat die Male anfangs mancherlei zerschlagen
Und auch sonst beliebt gemacht sich wenig nur,
Zeigte doch in andrer Hinsicht schon nach Tagen
Sich bei ihr der Einfluß höherer Kultur.

Ihr Haare, vorher wirr und wüste,
Zeigten sich den Blicken wohlfrisiert und nett,
Und die Überfülle ihrer stolzen Büste
Ward gebändigt durch ein Front-Korsett.

Daß ihr Äuß´res immer propp´rer und geleckter,
wurde auch gebührend anerkannt. —
Wilhelm Schuster hieß er und war Bankdirekter,
Wo als Mädchen sie für alles Stellung fand.

Kriegte die Direktern oft die Platze,
Weil die Male gar so faul und frech dabei,
Handelte der Herr Direktor nach dem Satze,
Daß mit Liebe stets mehr auszurichten sei.

Male zeigte sich bei ihm auch wirklich willig,
Nie hat sie zum Widerspruche sich erfrecht:
Was dem gnäd´gen Herrn und dem Inspektor billig,
Dieses war dem Herrn Direktor doch nur recht.

Doch schon, — wehe! — nähert sich in aller Stille
Das Damokles-Schwert mit dem bekannten Haar,
Denn, was nützte Males ihr so guter Wille,
Wo er doch nicht an dem rechten Platze war?

Eines Abends, als es längst schon duster,
Hat die Male in der Küche aufgequiekt. — —
Und da sah die Schustern, wie der Schuster
Hat die Male an die Mannesbrust gedrückt. —

Dieses hat die Frau Direktor sehr erbittert,
In das Haar fuhr sie der Male kurzerhand,
Welche, als es endlich ausgewittert,
Nicht im Dienste mehr bei den den Direkters stand! —

Arg zerzaust, geprügelt und geschunden,
Dachte nun die Male lange hin und her,
Und da hat die Male schließlich dann gefunden,
Daß sie eigentlich hier überflüssig wär´.

Tief bereuend ihre vielen Fehler,
-
-- Denn noch war in ihr ein sittlich guter Kern —
Kehrte sie zurück in ihre stillen Täler,
Zum Inspektor und zum gnäd´gen Herrn.


                Und bestätigte mit Eifer, daß die Schande
                I
n den großen Städten einzig heimisch sei.
                U
nd mit Recht. „Denn auf dem platten Lande,“
                M
eint´ sie, „findet man doch nuscht dabei!“
      
Und hierzu eine Mail vom September 2004:

hallo Ihr Geschichtsschreiber,
bin heute 70 Jahre und wollte meinen erwachsenen Kindern von Pommern erzählen und über das Recht der ersten Nacht des Gutsbesitzers, bei der Heirat von Mägden und Knechte! Las auch darüber in Lüneburg in einem Buch.
Nun habe ich Euch im Internet gefunden und bin froh darüber, weil dieses Wissen verloren-gegangen ist. Bin in Stettin in Pommern geboren und weiss davon durch Erzählungen der Erwachsenen und möchte oder werde mich nun genauer informieren.
Alles Gute
ein Pommer im Schwabenland - Waiblingen
H. D.

(Wörterbuch von basisreligion und basisdrama)