TANTRISMUS ist ein zusammenfassender Begriff für zahlreiche religös-philosophische Strömungen im alten und mittelalterlichen Indien. Er umfaßt ganz grob etwa dasselbe, was wir hier im Westen unter Wissenschaft vom Bewußtsein oder von der Seele verstehen. Im Buddhismus und im Hinduismus wurden im Laufe der Zeit dann Theorien entwickelt und in die Praxis umgesetzt, die aus der Verbindung von Seelischem und Körperlichem ein intensiveres und bewußteres Leben schlechthin ermöglichen sollten. Dabei sollte dann die Spannung zwischen Männlichem und Weiblichem nicht nur nicht ausgeklammert, sondern bewußt gesucht, gestaltet und auch gesteigert werden. Immer wieder bis in unsere heutige Zeit ist von daher der Eindruck entstanden, als ob das Anliegen des Tantrismus vor allem höheres und besseres Bewußtsein durch raffinierteres und freieres Ausleben der Sexualität sei. Inwieweit dieser Eindruck richtig ist, wird sich wohl nie eindeutig klären lassen, denn zweifelhafte Eigeninteressen lassen sich bei allen denjenigen, die sich um Konzepte zur Bewußtmachung und zur Steigerung der Lust bemühen, nie ausschließen. Was ist, wenn das Ziel solcher Methoden im Grunde immer nur war und ist, daß die einflußreichen (und auch alten) Männer bestimmter Establishments doch noch auf diese Weise über den Weg der Religion zu für sie verjüngendem und gleichzeitig unverbindlichem Sex kommen konnten? Die jungen Weibchen waren ihnen ja immerhin schon durch die verschiedenen Praktiken der Tempelprostitution zugeführt worden, fehlten ihnen jetzt nicht nur noch geeignete Finessen, um die damit gegebenen Gelegenheiten auch richtig ausnutzen zu können? Von einer Verbindung von Sexualität und Partnerschaft, die allein die Sexualität menschlich macht, ist jedenfalls keine Spur zu erkennen, genauso wenig wie bei der ganzen "Kamasutra-Kultur", die ja auch in den Ländern üblich ist bzw. war, in denen es diese Tantrismus-Philosophien gibt. Die indischen Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller hatten von diesen "Tantrismus-Philosophien" nie etwas: Sie waren wohl immer nur die Rechtfertigungen der "Oberen Zehntausend". Oft genug dürfte ja bei solcher Konstruktion der Liebe gerade Impotenz unvermeidlich sein, weil da tiefe seelische Beziehungen kaum wahrscheinlich sind, die zumindest auf Dauer allein auch einen erfolgreichen Sex gewährleisten. Wurden hier also wieder einmal Frauen und Mädchen nicht nur nicht als Gefährten angenommen, sondern als Mittel zum Zweck raffinierter Befriedigung, wurde da letztlich doch nur wieder eine männerrechtliche Ideologie konstruiert, um sie als Prostituierte (und als Dienstmägde, wenn genügend frischer Nachschub da war) leichter mißbrauchen zu können (siehe Dienstmagd und Dirne)? Natürlich neigen wir hier im Abendland recht schnell zu solchen Bausch-und-Bogen-Beurteilungen, weil wir uns von unserer leibfeindlichen Philosophie und Theologie her von vornherein nur ein Entweder oder ein Oder im Umgang mit der Sexualität vorstellen können. Allerdings sollten wir auch hier wieder in einer Verurteilung anderer sehr vorsichtig sein, haben wir es hier denn mit unserer entgegengesetzten Ideologie (wie eben der von Gnosis und dem damit verbundenen Dualismus überfremdeten Philosophie und Theologie) tatsächlich besser gemacht? Warum nur fallen wir bei unserem Umgang mit der Sexualität immer vor einem Extrem ins andere, warum nur ist der Mittelweg so schwer? Vermutlich, weil an dem niemand von denen, die das Sagen haben, Interesse hat. Sicher ist es überzogen und daher falsch, wenn wir die Sexualität immer nur entweder als zwanghaftes Abreagieren von Spannungen oder als naturgewollte Notwendigkeit zur Kinderzeugung ansehen, die allenfalls innerhalb einer Ehe geduldet und ansonsten in jeglicher Form als sündhaft angesehen wird. Denn mit solcher Sichtweise werden wir der Spannbreite und der Dynamik der Sexualität nicht gerecht. Daher können wir sie damit auch nie unter Kontrolle bringen - weder bei uns selbst noch bei anderen. Wir müssen sie schon als eine naturgegebene Seite unseres Menschseins bewußt annehmen und gezielt gestalten wollen. Damit kann sie dann auch gleichzeitig positiv auf unser gesamtes Menschsein wirken. Doch wie räumen wir alle Verdachtsmomente aus, daß es nicht doch wieder nur unter neuem Etikett um das übliche alte ausbeuterische Sexualverhalten geht? Wie fangen wir es an, damit unsere Bemühungen nicht letztlich doch wieder nur auf die oben genannten Prostitutionskulte hinauslaufen, wie wir sie auch von den Darstellungen an den Tempeln von Konarak und Kajuraho in Indien kennen? Wie bauen wir in unser Denken und in unser Verhalten genügend Sicherungen ein, damit auch wirklich jeglicher Mißbrauch der Sexualität verhindert wird? Frühe christliche Gruppierungen mögen sich wohl über dies alles ihre Gedanken gemacht und dabei Vorstellungen entwickelt haben, die einerseits eine ausdrückliche Berücksichtigung der Normen der Zehn Gebote und andererseits eine zumindest unbewußte Beziehung zu manchen tantristischen Ideen vermuten lassen. So sollen hier auch (möglicherweise um ganz bewußt eine Konsequenz aus der damals noch nicht als Ursache der Erbsünde interpretierten Adam-und-Eva-Mythologie zu ziehen) uns einige zunächst gewagt erscheinende Auslegungen praktiziert worden sein: Gewisse männliche und weibliche Heilige hätten nämlich ihre Keuschheit unter Beweis gestellt, indem sie nackt beieinander gelegen hätten, ohne den Geschlechtsverkehr zu vollziehen und zweifellos auch ohne jene Berührungen zuzulassen, die auf eine sexuelle Befriedigung hinauslaufen konnten. Barbara G. Walker meint in ihrem Lexikon "Das geheime Wissen der Frauen" (New York 1983 und Frankfurt 1993 in Übersetzung) unter dem Stichwort Tantrismus, daß wahrscheinlich schon Geschlechtsverkehr stattgefunden hätte, jedoch ohne männlichen Orgasmus. Die Frage ist nur, welchen Sinn das dann gehabt haben sollte, wem sollte damit gedient sein? Wäre das nicht letzten Endes auch wieder nur ein von seiten der Männer ausbeuterisches Sexualverhalten, dessen ethischer Sinn nicht dadurch besser würden, daß der Mann beim Verkehr seine eigene Befriedigung vermied? Würde das etwa ein Vater so ohne weiteres gutheißen, wenn er davon im Zusammenhang mit seiner Tochter erfährt? Es scheint, daß sich die Amerikanerin Frau Walker wegen der in ihrem Land üblichen Verklemmtheit einfach Nacktheit zwischen den Geschlechtern ohne Geschlechtsverkehr nicht vorstellen kann, und so wirft sie in ihren weiteren Ausführungen schließlich auch Nacktheit und Promiskuität in einen Topf, was so gewiß nicht stimmt. Auch hier eine wirklich "demokratische" Lösung: Idee des Erlebnisses der Phase der Ästhetik! Doch was ist, wenn Menschen, die (noch) nicht zu einer wirklichen Gemeinschaft verbunden sind, bei ihrem vielleicht ansonsten sogar freizügigen Umgang miteinander tatsächlich alles das unterlassen, was als Ausbeutung und Ausnutzung interpretierbar ist, wenn sie also nicht nur auf Befriedigung sondern tatsächlich auch auf Geschlechtsverkehr überhaupt verzichten? Denn dabei würden doch alle die Nachteile vermieden, die nun einmal mit einem Geschlechtsverkehr gegeben sind, der nicht in der Ordnung einer ewigen Einheit von Leib und Seele geschieht und es würde auch von vornherein jeglicher damit verbundene Streß (siehe Gebrauch und Mißbrauch) vermieden werden. Könnten die Beteiligten nicht aus solcher Enthaltsamkeit heraus auch so tatsächlich zu dem erwünschten intensiverem Gefühl eines berauschenden Sieselbstseins (siehe Manselbstsein) und damit auch zum Bewußtsein wirklicher eigener Männlichkeit oder Weiblichkeit mit den geistigen Eigenschaften und Besonderheiten gelangen, das dabei möglich ist? Bedingung, daß dies möglich ist, ist ja eigentlich nur eine entsprechende Erziehung! In der Vergangenheit gab es auch christliche Gruppierungen mit tantristischen Vorstellungen, allerdings verschwanden diese recht bald wieder oder wurden sogar ausgerottet, vor allem, weil sie wohl einerseits schließlich doch nicht mehr so enthaltsam waren und daher an Überzeugungskraft verloren hatten und weil sie andererseits auch der offiziellen Kirche ein Dorn im Auge waren. Wie wir mit diesen alten Gedankengängen heute umgehen könnten, siehe unter Enthaltsamkeit. (Wörterbuch von basisreligion und basisdrama) |