Auf die NÄCHSTENLIEBE, also auf die selbstlose Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Menschen, die einem sogar völlig fremd sein können, ist nur zu oft diejenige Liebe reduziert worden, um die es im christlichen Glauben nun einmal geht. Wir mögen hier von den Gedanken des Apostels Paulus beeinflußt sein, der in seinem ersten Brief an die Korinther über die Liebe schreibt: "Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf...". Das ist zwar sicher alles richtig, doch klingt es zu papiernern, als daß es so recht träfe, was wir unter Liebe gemeinhin verstehen und nach der wir uns vor allem sehnen. Und es ist auch unwahrscheinlich, daß Jesus nur diese Liebe meinte, wenn er sich für die Frauen zu seiner Zeit einsetzte und sich in diesem Zusammenhang als gebotetreuer Mann ihnen und dabei auch mit Prostituierten unterhielt (siehe zur "Lehre des Jesus" und Jesus und die Sünderin). Und wenn es ihm nur um die sogenannte Nächstenliebe gegangen wäre, hätte das ein Grund sein können, daß man ihn verfolgte und schließlich umbrachte? Außerdem: Weist irgend etwas im Neuen Testament der Bibel darauf hin, daß sich Jesus auf wirklich gefährliche Aktionen etwa gegen die damals Ausbeutenden eingelassen oder sie propagiert hätte? Es drängt sich also auf, daß wir das Problem der Liebe sozusagen entschärft haben, indem wir es immer nur auf die "Werke der Barmherzigkeit" eingeengt und auf diese schließlich auch die praktischen Auswirkungen unseres Glaubens mit einer Predigt vom Endgericht (siehe unter Bergpredigt) hingebogen haben. Doch die Akzentsetzung des historischen Jesus dürfte eine andere als unsere heute übliche und im allgemeinen vorstellbare gewesen sein. Vor allem engagierte er sich erst einmal gegen die Hartherzigkeit seiner Zeitgenossen gegenüber dem Glück von Frauen! Und damit ging es ihm also um die risikoreichere Liebe, bei der das individuelle Glück aller Menschen im Zentrum steht, und damit auch der wirtschaftlich gut Situierten, die es gar nicht nötig haben, daß man ihnen die Werke der Barmherzigkeit zukommen läßt, also um ihre Einheit von Leib und Seele. Denn bei einem Menschen, der in leibseelischer Harmonie lebt oder für den diese wenigstens ausdrückliches Anliegen und Ziel ist, ist vermutlich weniger die Gefahr gegeben, daß er gegen die Nächstenliebe verstößt und im Namen einer Liebe eine neue Tyrannei aufbaut. Gibt es solche Tyranneien nicht nur bisweilen im Großen, der Kommunismus war etwa eine, sondern auch im Kleinen, wenn etwa Menschen ihren Mitmenschen nicht die geeigneten Informationen fürs Leben mitgeben und sie so in dauernder Unmündigkeit und Abhängigkeit belassen? Nächstenliebe als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme? Verdächtig ist zudem, daß sich in unseren christlichen Kirchen (und nicht nur dort) das Anliegen der Nächstenliebe schon längst zu einem riesigen Geschäftszweig entwickelt hat, in dem nicht nur anderen Menschen geholfen wird, sondern von dem auch viele Menschen durch ihre Mitarbeit leben. Es soll hier keinesfalls der aufopfernde Dienst vieler Menschen an ihren notleidenden Mitmenschen herabgesetzt werden, der oftmals auch freiwillig und unentgeltlich ist, doch es stellt sich die Frage, wie viele notleidende Menschen es überhaupt gäbe, die auf solche hilfreiche Liebe angewiesen wären, wenn sie nicht schon lange vorher vor allem an ihrer Einheit von Leib und Seele Schaden gelitten hätten und dadurch in ihren persönlichsten Bereichen nicht klar gekommen wären. Und das ist ja nur zu oft direkt oder indirekt auf eine Fehlleistung unserer christlichen Religion zurückzuführen. Eine Untersuchung zu den Clochards in Paris etwa ergab, daß über die Hälfte von ihnen gescheiterte Partnerbeziehungen nicht verkraftet hatten. Natürlich ist es weitgehend zu spät, noch etwas Grundlegendes zu unternehmen, sobald die Menschen erst einmal "unten" sind, doch hätte es da schon die richtigen Aufgaben für unseren Glauben in der Kindheit dieser Menschen gegeben? Und stecken nicht gerade auch solche nicht gelungenen Beziehungen hinter der Hilfsbedürftigkeit junger Mädchen und vieler anderer Frauen, wenn sie ungewollt schwanger werden (siehe Abtreibung)? Gelänge es, da etwas zu ändern, wäre doch viel Nächstenliebe gar nicht mehr erforderlich! An der Liebe, wie sie sich Jesus vorstellte, haben die typischen Etablierten sowieso kein Interesse. Doch wer hätte an einer solchen Änderung wirkliches Interesse? Für jede patriarchalisch konstruierte Religion bringt nämlich die Einengung der Liebe auf die Nächstenliebe - oder modern ausgedrückt auf "soziales Verhalten" - einige Vorteile: - Man braucht die eigenen Fehler nicht aufzuarbeiten, es fällt gar nicht auf, daß man mit der Liebe selbst nicht klar kommt. - Man gibt die Aufarbeitung der eigenen Fehler, die eigentlich gefragt wäre, an andere weiter, - denen man dann noch ein schlechtes Gewissen verschaffen, sie also mit Schuldgefühlen belasten kann, da sie ja dem Ideal der aufopfernden Nächstenliebe letztlich doch nie vollkommen gerecht werden können. - Man schafft sich selbst eine Geschäftsbasis, nämlich die der Nächstenliebe. Was treibt also die Menschen wirklich, die immer so die Nächstenliebe betonen und die in ihrem Leben vieles angeblich aus reiner Nächstenliebe machen? Haben wir da vielleicht nicht schon manchmal längst eine Tyrannei der Nächstenliebe im Kleinen aufgebaut? Doch scheint es trotz allem auch eine Art von selbstloser Nächstenliebe zu geben, wie wir sie von Jesus kennen, und die zum höchsten Sinn des Lebens werden kann! Kennzeichen dafür mag eine wirklich hilfreiche Verantwortlichkeit für andere sein. Und auch die hat ihre Vorteile für einen selbst! Schauen Sie einmal in den folgenden Beitrag der WELT vom 14. 4. 2004:
Selbstlose Helfer setzen sich durch
Vancouver/Cambridge - Wirkliche Hilfsbereitschaft ist in der Natur nicht
ungewöhnlich. Ob nun Fledermäuse nichtverwandte Artgenossen mit Blut füttern
oder Menschen sich für Schwächere einsetzen, sie tun es oft, ohne unmittelbar
mit Belohnung zu rechnen. Lange war dieses Verhalten ein Rätsel, denn
Altruismus scheint im darwinistischen Kampf ums Überleben keinen Platz zu
haben. Doch mit Computersimulationen lässt sich der Deckel lüften, unter dem
die Evolution ihr Süppchen kocht. Dabei zeigt sich, dass sich die "Helfer"
gegenüber den reinen "Egoisten" behaupten und sogar mehr Nachkommen haben
können. Das Fachmagazin "Nature" veröffentlicht jetzt zwei neue Studien zu
Computersimulationen, die nun noch mehr Licht auf die Entstehung von
Kooperation werfen. |