Das Ehe- und Familienleben wird auch durch die
Verkündigung der vollen Freiheit des geschlechtlichen Verkehrs
angegriffen. Diese Freiheit wurde als Protest gegen die Tyrannei der
alten, gesetzlichen Ehe verkündigt. Es wurde die famose These
geschaffen, daß die Befriedigung des sexuellen Triebes in einer
kommunistischen Gesellschaft ebenso einfach und belanglos sei, wie das
Herunterschlucken eines Glases Wasser. „Diese ,Glas-Wasser-Theorie’ hat
die kommunistische Jugend ganz toll gemacht. Sie ist vielen jungen
Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden“, schrieb später Lenin
selbst an Klara Zetkin.
Die bekannte Kommunistin Smidowitsch stellte15) folgendes
kurzes
Schema der sexuellen Moral auf, die zu jener Zeit unter der
kommunistischen Jugend herrschte: „Unsere Jugend scheint davon
überzeugt zu sein, daß sie alle Fragen, die mit Liebe verbunden sind,
auf die allerroheste und schmutzigste Weise zu lösen berufen ist; sonst
würde sie ihrer kommunistischen Würde Abbruch tun. Die Moral unserer
Jugend besteht z.Z. kurz gefaßt in Folgendem: 1. Jeder Komsomolez,
jeder Student des „Rabfak“ (Arbeiterfakultät), wenn auch minderjährig,
ist berechtigt und verpflichtet, seine sexuellen Bedürfnisse zu
befriedigen. Dieser Begriff ist zum Axiom geworden, und die
Enthaltsamkeit wird als eine für das bürgerliche Denken
charakteristische Borniertheit angesehen. 2. Wenn ein Mann ein junges
Mädchen begehrt, sei es eine Studentin, eine Arbeiterin oder sogar ein
Mädchen im schulpflichtigen Alter, so ist dieses Mädchen verpflichtet,
sich dieser Begierde zu fügen, da sie sonst als Bürgerstochter
angesehen wird, die des Namens einer echten Kommunistin unwürdig wird“……
Die Richtigkeit dieser Formeln wurde bestätigt durch eine
ganze
Reihe von Briefen, die als Antwort auf ihren Aufsatz eingesandt wurden.
So schreibt z.B. eine Studentin S. Z. M. A.: „Die Studenten sehen sehr
schief diejenigen Komsomol-Mädchen an, die sich weigern, mit ihnen in
Geschlechtsverkehr zu treten. Sie betrachten sie als rückständige
Kleinbürgerinnen, als solche, die sich von veralteten Vorurteilen nicht
frei machen können. Bei den Studenten herrscht die Ansicht, daß nicht
nur die Enthaltsamkeit, sondern auch die Mutterschaft als Ausdruck der
bürgerlichen Igeologie zu behandeln ist.“
Eine andere Studentin, Namens Rubzowa, berichtet, daß die
Kommunisten die Liebe als etwas sehr rasch Vergehendes betrachten; sie
halten eine dauernde Liebe für langweilig; der Begriff Ehefrau wäre ein
bürgerliches Vorurteil. Auf die Frage: „Wo ist ihre Frau tätig?“,
lachen sie und fragen: „Welche?“ „Ein prominenter Kommunist sagte mir:
„In allen Städten, in denen ich dienstlich zu tun habe, habe ich auch
eine provisorische Frau.“ „Der Mann meiner Freundin“, fährt die Rubzowa
fort, — „schlug mir vor, eine Nacht bei ihm zu schlafen, da seine Frau
krank wäre und ihn in dieser Nacht nicht befriedigen könne. Als ich
mich weigerte, nannte er mich eine dumme Bürgerin, die nicht fähig sei,
die Höhe der kommunistischen Lehre zu begreifen.“17) ‘
Es muß bemerkt werden, daß alle diese Frauen echte
Kommunistinnen
sind, die die Richtigkeit der kommunistischen Einstellung in keiner
Weise anzweifeln, sondern nur über den gräßlichen Zynismus und die
Verletzung der Frauenwürde durch das Benehmen der Kommunisten
klagen.18) Für die entsprechenden Ansichten der kommunistischen Jugend
sind die Resultate einer Rundfrage, welche in Petersburg im Jahre 1927
an den technischen Hochschulen vorgenommen wurde, bezeichnend. In
dieser Rundfrage wurde unter anderem auch die Frage gestellt, ob eine
ideelle Gemeinschaft bei sexueller Gemeinschaft notwendig sei. 36
Prozent der Studenten beantworteten diese Frage mit einer Gegenfrage: —
„Was hat das mit der Ideologie zu tun?“ —, und 20 Prozent antworteten:
„Mit Ideologie ist’s gut, es geht aber auch ohne.“ Einer der Studenten
schrieb: „Ich kümmere mich wenig um die Ideologie; ich möchte, daß die
Frau gesund und bereit ist, mich zu befriedigen. Ich fordere von ihr
nur eine Sache, die mit Ideologie nichts zu tun hat.“19)
15) Prawda, 21. März 1925.
16) Prawda, 7. Mai 1925.
17) Prawda, 7. Mai 1925.
18) Siehe auch im obenerwähnten Stenogr. Protokoll, S. 155, 169.
19) Smena, Leningrad, S. 73.