MITTELALTER (Basislexikon: kompetent-kritisch-konstruktiv)

MITTELALTER. Sexualmoral, Ehe und Liebe, Scham, Prostitution - was war im Mittelalter eigentlich los? War alles so viel anders als bei uns?

Vor allem war der Schamstandard im Mittelalter gewiß ein völlig anderer!

Ich zitiere dazu den "Pionier der Zivilisationsforschung" Norbert Elias (1897 - 1990) aus seinem Werk "Der Prozess der Zivilisation", Basel 1939, Erster Band, S. 238ff. Elias schreibt hier über das  pädagogische  Werk des bekannten Humanisten Erasmus von Rotterdam (um 1567 - 1536). Erasmus, der das Mittelalter zu überwinden sucht, geht es dabei um wirkliche Moral!

5. Erasmus selbst hat niemals „seinen didaktischen Zweck aus dem Auge verloren". Sein Kommentar „de utilitate Colloquiorum" zeigt es ganz unzweideutig. Hier sagt er „expressis verbis", was er mit jedem seiner „Gespräche" für einen didaktischen Zweck verbunden hat, oder, genauer ausgedrückt, was er dem jungen Menschen vor Augen stellen wollte. Zu dem Gespräch des Jünglings mit der Dirne sagt er z. B.: „ Quid autem dici potuit efficacius, vel ad inserendam adolescentum animis pudicitiae curam, vel ad revocandas ab instituto non minus aerumnoso quam turpi puellas ad quaestum expositas?" „Was hätte ich Wirksameres sagen können, um dem Geist des Jünglings das Bemühen um Schamhaftigkeit nahezulegen und um Mädchen aus solchen gefährlichen und schimpflichen Häusern herauszubringen ?" Nein, er hat seinen pädagogischen Zweck nie aus dem Auge verloren; lediglich der Standard des Schamgefühls ist ein anderer. Er will dem jungen Menschen wie in einem Spiegel die Welt zeigen; er will ihn lehren, was man fliehen muß, und was ein ruhiges Leben einbringt: „In senili colloquio quam multa velut in speculo exhibentur, quae, vel fugienda sunt in vita, vel vitam reddunt tranquülam!"

Und die gleiche Absicht liegt ohne Zweifel auch den Gesprächen des Morisotus (Anm.: ein anderer bekannter Pädagoge) zugrunde; die gleiche Haltung zeigt sich in vielen anderen Erziehungsschriften der Zeit. Sie alle wollten die Knaben, wie Erasmus es ausdrückt „in das Leben einführen83)". Aber man verstand darunter ganz unmittelbar das Leben der Erwachsenen. In der späteren Zeit entwickelt sich mehr und mehr die Tendenz, den Kindern zu sagen und zu zeigen, wie sich Kinder verhalten sollen und wie nicht. Hier zeigt man ihnen, um sie ins Leben einzuführen, wie sich Erwachsene verhalten sollen und wie nicht. Darin liegt der Unterschied. Und man verhielt sich nicht etwa aus theoretischen Reflexionen hier in dieser, dort in jener Weise. Es war für Erasmus und seine Zeitgenossen ganz selbstverständlich, in dieser Weise zu Kindern zu sprechen; die Knaben lebten, sei es auch als Dienende, als sozial Abhängige, schon sehr früh in dem gleichen, gesellschaftlichen Raum, wie die Erwachsenen; und die Erwachsenen legten sich auch mit Bezug auf das sexuelle Leben weder im Handeln noch im Sprechen eine solche Zurückhaltung auf, wie später; entsprechend dem anderen Stand der Affektzurückhaltung, den Stand und Aufbau der zwischenmenschlichen Beziehungen in dem Einzelnen produzierten, war den Erwachsenen selbst die Vorstellung der Heimlichkeit, der Intimisierung, der strengen Abschließung dieser Triebäußerungen voreinander und vor den Kindern weitgehend fremd; auch das alles machte von vornherein die Distanz zwischen dem Verhaltens- und Affektstandard von Erwachsenen und Kindern geringer. Immer von neuem zeigt sich, wie wichtig es für das Verständnis der früheren und unserer eigenen psychischen Konstitution ist, das Wachstum dieser Distanz, die allmähliche Herausbildung dieses eigentümlichen Sonderraumes genauer zu beobachten, in dem die Menschen allmählich die ersten 12, 15 und nun schon fast 20 Jahre ihres Lebens verbringen. Die biologische Entwicklung des Menschen wird sich in den früheren Zeiten nicht viel anders vollzogen haben als heute; erst im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Veränderung können wir die ganze Problematik des ,,Erwachsenseins", wie sie sich heute darstellt, und mit ihr solche Sonderprobleme, wie die der „infantilen Residuen" im Seelenaufbau des Erwachsenen, unserem Verständnis zugänglicher machen. Der stärkere Unterschied zwischen der Kleidung der Kinder und der Kleidung der Erwachsenen in unsrer Zeit ist nur ein besonders sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung; auch er war in der Zeit des Erasmus und noch eine ganze Strecke darüber hinaus minimal.

6. Dem Betrachter aus der neueren Zeit erscheint es verwunderlich, daß Erasmus in seinen Colloquien zu einem Kind von Dirnen und den Häusern, in denen sie leben, überhaupt spricht. Den Menschen unserer Phase der Zivilisation erscheint es als unmoralisch, von solchen Institutionen in einem Schulbuch überhaupt Notiz zu nehmen. Sie existieren gewiß als Enklaven auch in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Aber die Schamangst, mit denen man den sexuellen Bezirk des Triebhaushalts, wie viele andre, von klein auf belegt, der „Bann des Schweigens", mit dem man ihn im gesellschaftlichen Verkehr umgibt, ist so gut wie vollkommen. Schon die bloße Erwähnung solcher Meinungen und solcher Institute im gesellschaftlichen Verkehr der Menschen ist unerlaubt, und der Hinweis auf sie im Verkehr mit Kindern ist ein Verbrechen, eine Beschmutzung der Kinderseele, zum mindesten ein Konditionierungsfehler schlimmster Art.

In Erasmus' Zeit war es ebenso selbstverständlich, daß die Kinder von dem Bestand dieser Institutionen wußten. Niemand verheimlichte sie vor ihnen. Allenfalls warnte man sie davor. Eben das tut Erasmus. Wenn man nur die pädagogischen Bücher der Zeit liest, dann allerdings erscheint die Erwähnung solcher gesellschaftlicher Institutionen leicht als individueller Einfall Einzelner. Wenn man sieht, wie die Kinder tatsächlich mit den Erwachsenen lebten, und wie gering die Mauer der Heimlichkeit unter den Erwachsenen selbst und dementsprechend auch zwischen Erwachsenen und Kindern war, versteht man, daß solche Gespräche, wie die des Erasmus und des Morisotus sich unmittelbar auf den Standard ihrer Zeit beziehen. Daß die Kinder von alledem wußten, damit mußten sie rechnen; das war selbstverständlich. Als Aufgabe des Erziehers erschien es, ihnen zu zeigen, wie sie sich solchen Institutionen gegenüber verhalten sollten.

Es will vielleicht noch nicht viel besagen, daß auf den Universitäten von solchen Häusern ganz öffentlich geredet wurde; immerhin kamen die Menschen zum guten Teil schon jünger zur Universität als heute. Und jedenfalls illustriert es dieses ganze Kapitel schon einigermaßen, daß die Dirne sogar bei öffentlichen Scherzreden im Rahmen der Universität als Thema diente. 1500 hielt ein Magister in Heidelberg eine solche öffentliche Rede „De fide meretricum in suos amatores", ein anderer sprach „de fide concubinarum", ein dritter „über das Monopolium der Schweinezunft" oder „de generibus ebriosorum et ebrietate vitanda84)". Und genau das gleiche Phänomen zeigt sich in vielen Predigten der Zeit; nichts weist darauf hin, daß Kinder von ihnen ausgeschlossen blieben; man mißbilligte in kirchlichen und in vielen weltlichen Kreisen ganz gewiß diese Form der außerehelichen Beziehung; aber das gesellschaftliche Verbot war dem Einzelnen noch nicht so als Selbstzwang eingeprägt, daß es peinlich war, von ihr in der Öffentlichkeit überhaupt zu reden; es war noch nicht jede Äußerung verfemt, die zeigte, daß man von so etwas überhaupt wisse.

Und noch deutlicher wird dieser Unterschied, wenn man die Stellung der käuflichen Frauen in den mittelalterlichen Städten betrachtet. Wie heute noch in vielen außereuropäischen Gesellschaften, so hatten sie auch im öffentlichen Leben der mittelalterlichen Stadt ihren ganz bestimmten Platz. Es gab Städte, in denen sie an Pesttagen um die Wette liefen85). Häufig waren sie es, die man hohen Gästen zur Begrüßung entgegenschickte. 1438 heißt es z. B. in den Stadtrechnungsprotokollen von Wien: ,,Umb den Wein den gemain Frawen 12 achterin. Item den Frawen, die gen den kunig gevarn sind, 12 achterin Wem86)." Oder Bürgermeister und Rat halten die hohen Gäste im Frauenhaus frei. Kaiser Siegismund bedankt sich 1434 öffentlich bei dem Berner Stadtmagistrat dafür, daß er ihm und seinem, Gefolge drei Tage lang das Frauenhaus unentgeltlich zur Verfügung gestellt habe87). Das gehörte, wie etwa ein Gastmahl, mit zu der Bewirtung, die man hohen Gästen bot.

Die käuflichen Frauen, oder, wie man sie in Deutschland oft nennt, die „schönen Frauen", die „Hübscherinnen", bilden innerhalb des Stadtwesens, wie jede andere Berufsgattung, eine Korporation mit bestimmten Rechten und Pflichten. Und sie wehren sich gelegentlich, wie jede andere Berufsgruppe, gegen unlautere Konkurrenz. 1500 gehen z. B. einige von ihnen in einer deutschen Stadt zum Bürgermeister und beschweren sich über ein anderes Haus, in dem das heimlich getrieben wird, wozu ihr Haus allein das öffentliche Recht hat. Der Bürgermeister gibt ihnen die Erlaubnis, in dieses Haus einzudringen; sie schlagen alles kurz und klein und verprügeln die Wirtin. Ein andermal wieder holen sie eine Konkurrentin aus deren Haus heraus und zwingen sie, in ihrem Haus zu leben.

Ihre soziale Stellung war mit einem Wort ähnlich wie die des Henkers, niedrig und verachtet, aber durchaus öffentlich und nicht mit Heimlichkeit umgeben. Auch diese Form der  außerehelichen  Beziehung  zwischen  Mann  und Frau war noch nicht „hinter die Kulissen" verlegt.

7. Bis zu einem gewissen Grade gilt das von der Geschlechterbeziehung überhaupt, auch von der ehelichen. Die Hochzeitsgebräuche allein schon geben uns einen Begriff davon. Der Zug ins Brautgemach erfolgte unter Vorantritt aller Brautführer. Die Braut wurde von den Brautjungfern entkleidet; sie mußte allen Schmuck ablegen. Das Brautbett mußte dann in Gegenwart von Zeugen beschatten werden, sollte die Ehe gültig sein. Man „legte sie zusammen88)". „Ist das Bett beschritten, ist das Recht erstritten", hieß es. Im späteren Mittelalter änderte sich der Brauch allmählich dahin, daß die Brautleute sich angekleidet aufs Bett legen konnten. Sicherlich waren diese Bräuche in verschiedenen Schichten, in verschiedenen Ländern nicht ganz die gleichen. Immerhin hören wir z. B. aus Lübeck, daß die alte Form noch bis ins erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts beibehalten wurde89). Auch noch in der höfisch-absolutistischen Gesellschaft Frankreichs wurden Braut und Bräutigam von Gästen zu Bett gebracht, entkleideten sich, und man reichte ihnen das Hemd. Alles das sind Symptome für einen anderen Standard des Schamgefühls gegenüber den Beziehungen der Geschlechter. Und durch diese Beispiele hindurch sieht man von neuem deutlicher das Spezifische jenes Standards der Schamgefühle, der dann langsam im 19. und 20. Jahrhundert herrschend wird. In dieser Zeit wird auch unter den Erwachsenen alles, was das sexuelle Leben betrifft, in relativ sehr hohem Maße verdeckt und hinter die Kulissen verwiesen; deswegen wird es möglich und deswegen ist es auch nötig, diese Seite des Lebens lange Zeit für die Kinder mehr oder weniger erfolgreich zu verdecken; in den vorangehenden Phasen sind die Beziehungen der Geschlechter samt allen Institutionen, die sie einfassen, unvergleichlich viel stärker in das öffentliche Leben eingebaut; deswegen ist es weit selbstverständlicher, daß die Kinder von klein auf mit dieser Seite des Lebens vertraut sind; es besteht auch im Sinne der Konditionierung, nämlich um sie auf den Standard der Erwachsenen zu bringen, keine Notwendigkeit, diese Sphäre des Lebens für sie dermaßen mit Tabus und mit Heimlichkeit zu belasten, wie das in der späteren Phase der Zivilisation entsprechend ihrem anderen Verhaltensstandard notwendig ist.

In der höfisch-aristokratischen Gesellschaft war gewiß dann das sexuelle Leben schon erheblich verdeckter, als in der mittelalterlichen. Was der Beobachter der bürgerlichindustriellen Gesellschaft oft als die „Frivolität" der höfischen empfindet, ist ja nichts anderes, als ein solcher Verdeckungsschub. Aber gemessen am Standard der Triebregelung in der bürgerlichen Gesellschaft selbst ist dennoch die Verdeckung, die Einklammerung der Sexualität im gesellschaftlichen Verkehr, wie im Bewußtsein während dieser Phase relativ gering. Auch hier geht das Urteil aus der späteren Phase sehr oft in die Irre, weil man die Standarde, den eigenen, wie den höfisch-aristokratischen, statt als Phasen einer Bewegung, die einander bedingen, wie etwas Absolutes gegeneinander stellt, und den eigenen zum Maßstab aller anderen macht.

Auch hier entsprach der relativen Unverdecktheit, mit der man unter Erwachsenen über die natürlichen Funktionen sprach, eine größere Unbefangenheit des Sprechens und auch des Handelns im Verkehr mit den Kindern. Man findet eine Fülle von Beispielen dafür. Da lebt — um ein besonders anschauliches herauszugreifen — im 17. Jahrhundert am Hofe ein kleines, sechsjähriges Fräulein von Bouillon. Die Damen des Hofes kommen und konversieren mit ihr, und eines Tages machen sie sich mit ihr einen Scherz: Sie versuchen dem kleinen Fräulein einzureden, sie sei schwanger. Die Kleine bestreitet das. Sie verteidigt sich. Das sei absolut nicht möglich, sagt sie, und man argumentiert hin und her.

Aber dann findet sie eines Tages beim Erwachen in ihrem Bett ein neugeborenes Kind vor. Sie ist erstaunt; und sie sagt in ihrer Unschuld: „Es gibt also nur die heilige Jungfrau und mich, denen das passiert ist; denn ich habe überhaupt keine Schmerzen gehabt." Das Wort macht die Runde, und jetzt wird die kleine Affäre zu einem Zeitvertreib finden ganzen Hof. Das Kind erhält Besuche, wie das bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Die Königin selbst kommt zu ihr, sie zu trösten und sich ihr als Taufpate für das Neugeborene anzubieten. Und zugleich geht das Spiel weiter: Man drängt, man fragt, man diskutiert mit dem kleinen Mädchen, wer eigentlich der Vater des Kindes sei. Schließlich, nach einer Zeit des angestrengten Nachdenkens, kommt die Kleine zu einem Ergebnis: Es könne, sagt sie, nur der König oder der Graf v. Guiche gewesen sein, denn das seien die beiden einzigen Männer, die ihr einen Kuß gegeben hätten90). Niemand findet etwas bei diesem Scherz. Er hält sich durchaus im Rahmen des Standards. Niemand sieht in ihm eine Gefahr für die Einpassung des Kindes an diesen Standard, für die Seelenreinheit des Kindes, und man empfindet ihn offenbar auch nicht im mindesten als Widerspruch zu seiner religiösen Erziehung.

8. Erst sehr allmählich breitet sich dann eine stärkere Scham- und Peinlichkeitsbelastung der Geschlechtlichkeit und eine entsprechende Zurückhaltung des Verhaltens mehr oder weniger gleichmäßig über die ganze Gesellschaft hin aus. Und erst dann, wenn die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern wächst, wird das, was wir die „sexuelle Aufklärung" nennen, zu einem „brennenden Problem".

Doch die Probleme sind immer dieselben! Ein anderer Humanist, der englische Lordkanzler Thomas Morus (1478 - 1535), Märtyrer unter Heinrich VIII. für die katholische Kirche und (allerdings erst) 1935 heilig gesprochen, kritisiert das merkwürdige und unlogische Verhalten seiner Zeit (also der vergangenen Zeit, also des Mittelalters!) und versucht in seinem utopischen Roman "Utopia" eine Lösung.

Er nimmt in seiner Zeit der Entdeckung neuer Welten die Gelegenheit wahr, einen Reisebericht auf eine von ihm erfundene Insel "Utopia" (siehe auch Utopie) zu schreiben, auf der alles vernünftig zugeht, was in den eigenen Verhältnissen eben unvernünftig ist, eine geniale Form der Kritik an einer Gesellschaft, in der man einfach nicht die Wahrheit sagen und offen kritisieren durfte. Und das bezieht sich auch auf die Ehemoral (Reclam-TB 513, S. 107f):  

”Ferner beobachten sie bei der Auswahl der Gatten ganz ernsthaft und mit Strenge einen Brauch, der uns höchst unschicklich, ja überaus komisch erschien. Eine würdige und ehrbare ältere Dame führt nämlich das zur Heirat begehrte Weib, sei es nun eine Witwe oder ein Mädchen, dem Freier nackend vor, und entsprechend stellt ein ehrenwerter Mann dem Mädchen den Freier nackend vor. Während wir nun diese Sitte als unschicklich lachend mißbilligten, wunderten sie sich im Gegenteil über die außerordentliche Torheit aller anderen Nationen, wo man beim Ankauf eines armseligen Pferdes, bei dem es sich doch nur um ein paar Goldstücke handelt, so vorsichtig ist, daß man den Ankauf verweigert, ehe nicht der Sattel abgenommen ist und alle Pferdedecken entfernt sind (obschon das Tier doch von Natur fast nackt ist), damit ja nicht unter diesen Verhüllungen irgendein Schaden versteckt bleiben kann; dagegen bei der Auswahl der Ehefrau, in einer Angelegenheit also, aus der Lust oder Ekel für das ganze Leben folgt, verfährt man so nachlässig, daß man das ganze Weib nach kaum einer Spanne seines Leibes beurteilt; denn nichts als das Gesicht betrachtet man, während der ganze übrige Körper von der Kleidung verhüllt ist; und danach verbindet man sich und läuft große Gefahr, daß die Ehe schlecht zusammenhält, wenn sich hinterher ein körperlicher Mangel herausstellt. Denn nicht alle Männer sind so verständig, daß sie bloß auf den Charakter sehen, und auch in den Ehen verständiger Männer bilden körperliche Reize eine nicht unwesentliche Zugabe zu den geistigen Vorzügen. Jedenfalls aber kann unter jenen Kleiderhüllen eine so abschreckende Häßlichkeit verborgen sein, daß sie das Gemüt eines Mannes seiner Frau ganz zu entfremden vermag, da einmal körperliche Trennung nicht mehr möglich ist. Wenn eine solche körperliche Entstellung erst nach der Trauung durch irgendeinen Unglücksfall eintritt, so muß freilich jeder sein Schicksal tragen; dagegen sollte man auf gesetzlichem Wege wenigstens vor der Trauung zu verhüten suchen, daß niemand in die Falle gerät. Die Utopier aber mußten um so eifriger solche Vorsorge treffen, weil sie das einzige unter den Völkern jener Himmelsstriche sind, bei dem man sich mit einer Gattin begnügt...."  (Anmerkung: Ein Besucher dieser Website fand diese Stelle so faszinierend, daß er sie in den Werken des Thomas Morus auf Englisch und Lateinisch herausgesucht und mir zugeschickt hat. Ich kopiere sie ganz unten auf dieser Seite. Siehe auch das Gespräch 22 zu dieser Thematik!)

Jedenfalls läßt diese Passage über die "nackte Präsentation" der Brautleute doch darauf schließen, daß die oft zitierte "Unverklemmtheit" im Mittelalter immer nur die sogenannten "hübschen Frauen" betraf, also die Prostituierten, "anständige Leute", die man heiratete, allerdings nie und nimmer! Und es ist auch keine Rede davon, daß das in anderen Gesellschaftschichten, als etwa der, der Thomas Morus angehörte, anders war, er hätte mit Sicherheit davon geschrieben. Genauso wenig wie heute die Verklemmtheit oder auch die Leibfeindlichkeit im allgemeinen zu wirklicher Moral führt, also zu lebenslang haltenden Beziehungen, führte sie auch damals ganz offensichtlich nicht dazu!

Na also, zumindest von einer "Phase der Ästhetik" kann damals keine Rede gewesen sein (und gewiß nicht nur im vielleicht damals schon ein wenig puritanischen England, schließlich wurde "Utopia" 1518 in Basel gedruckt; diese Ausgabe besorgte übrigens Erasmus), denn Thomas Morus hatte also - offenbar im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen - das Problem wenigstens erkannt!

Und sind die Probleme denn heute anders? Von der Moral her gesehen leben wir doch noch immer im Mittelalter! (Wörterbuch von basisreligion und basisdrama)

Und hier für Spezialisten die Stelle aus Thomas Morus "Utopia", wie sich die Utopier ihre Ehepartner aussuchen, auf Englisch und Lateinisch:

THOMAS MORUS, UTOPIA
Of Their Slaves, and of their Marriages

In choosing their wives they use a method that would appear to us very absurd and  ridiculous, but it is constantly observed among them, and is accounted perfectly consistent  with wisdom. Before marriage some grave matron presents the bride naked, whether she is a  virgin or a widow, to the bridegroom; and after that some grave man presents the bridegroom naked to the bride. We indeed both laughed at this, and condemned it as very indecent. But  they, on the other hand, wondered at the folly of the men of all other nations, who, if they  are but to buy a horse of a small value, are so cautious that they will see every part of  him, and take off both his saddle and all his other tackle, that there may be no secret  ulcer hid under any of them; and that yet in the choice of a wife, on which depends the  happiness or unhappiness of the rest of his life, a man should venture upon trust, and only  see about a hand's-breadth of the face, all the rest of the body being covered, under which  there may lie hid what may be contagious as well as loathsome. All men are not so wise as to  choose a woman only for her good qualities; and even wise men consider the body as that  which adds not a little to the mind: and it is certain there may be some such deformity  covered with the clothes as may totally alienate a man from his wife when it is too late to  part from her. If such a thing is discovered after marriage, a man has no remedy but  patience. They therefore think it is reasonable that there should be good provision made  against such mischievous frauds.
There was so much the more reason for them to make a regulation in this matter, because they  are the only people of those parts that neither allow of polygamy nor of divorces . . .

<http://oregonstate.edu/instruct/phl302/texts/more/utopia-slaves.html>
 


Thomae Mori Utopia
Raphaelis sermo pomeridianus

[de legibus Utopiensium.]

porro in deligendis coniugibus ineptissimum ritum - uti nobis visum est - adprimeque ridiculum, illi serio ac severe observant. mulierem enim seu virgo seu vidua sit, gravis et honesta matrona proco nudam exhibet, ac probus aliquis vir vicissim nudum puellae procum sistit.
hunc morem cum velut ineptum ridentes improbaremus, illi contra ceterarum omnium gentium insignem demirari stultitiam, qui cum in equuleo comparando, ubi de paucis agitur nummis, tam cauti sint, ut quamvis fere nudum nisi detracta sella tamen, omnibusque revulsis ephippiis recusent emere, ne sub illis operculis hulcus aliquod delitesceret, in deligenda coniuge, qua ex re aut voluptas, aut nausea sit totam per vitam comitatura, tam negligenter agant, ut reliquo corpore vestibus obvoluto, totam mulierem vix ab unius palmae spatio - nihil enim praeter vultum visitur - aestiment adiungantque sibi non absque magno - si quid offendat postea - male cohaerendi periculo. nam neque omnes tam sapientes sunt ut solos mores respiciant, et in ipsorum quoque saepientum coniugiis, ad animi virtutes nonnihil additamenti corporis etiam dotes adiiciunt, certe tam foeda deformitas, latere sub illis potest involucris ut alienare prorsus animum ab uxore queat, cum corpore iam seiungi non liceat; qualis deformitas si quo casu contingat post contractas nuptias, suam quisque sortem necesse est ferat, ante vero ne quis capiatur insidiis, legibus caveri debet.
idque tanto maiore studio fuit curandum quod et soli illarum orbis plagarum singulis sunt contenti coniugibus . . .

<http://www.fh-augsburg.de/~harsch/mor_u209.html>