MILGRAM-VERSUCHE. Zu der Problematik, inwieweit faschistische Institutionen das Verhalten von Menschen bis zu Unmenschlichkeit wie Folter und sogar Mord beeinflussen können, inwieweit also etwa "böse Systeme" (siehe Mafia) Menschen, die gar nicht einmal besonders naiv zu sein brauchen (siehe Naivität), ebenfalls "böse" machen können, zitiere ich hier, was Rupert Lay in seinem Buch „Die Macht der Moral“ (Düsseldorf, Wien, New York, 1991, S. 46 ff) über die berühmten Milgram-Versuche schreibt: Stanley Milgram führte diese Versuche in den Jahren 1960 bis 1963 an der Yale University (New Haven, USA) durch (vgl. St. Milgram, Das Milgram-Experiment, Reinbek 1982). Sie wurden bis zu ihrer Veröffentlichung (1973) mehrere Dutzend Male mit ganz ähnlichen Ergebnissen wiederholt. Die Versuche sollten statistisch einwandfrei prüfen, wie sich Menschen in trivialen (aber faschistoiden) Institutionen verhalten, wenn sie in diesen im Gehorsam zu einem Verhalten (in faschistischen Institutionen ist in der Regel der Gehorsam die vorzüglichste Tugend, weil sie am ehesten jede Kritikfähigkeit lähmt und somit die Funktion des moralischen Gewissens weitgehend außer Kraft setzt) aufgefordert werden, das ihnen außerhalb dieser Institution durch ihr (funktionales oder moralisches) Gewissen verboten wäre. Die experimentell erzeugte Institution ist durch folgende Interaktionsmuster definiert:
- Der VP wird vom VL gesagt, sie und S seien für ein Experiment ausgewählt worden, in dem festgestellt werden sollte, ob und wie schnell Menschen durch Bestrafung lernen. Zu diesem Zweck solle VP S bei Falschantworten einen elektrischen Schlag versetzen. - Die VP wird hinter ein Gerät gesetzt, das einen Schockgenerator simuliert. Der Schockgenerator ermöglichte es VP, S Gleichstromschläge in 15-V-Stufung von 15 Volt bis 450 Volt zu versetzen. Unter den Schaltern stehen Inschriften, die von „Leichter Schock“ (15 Volt – 60 Volt) bis „Tödlicher Schock“ (375 Volt – 450 Volt) reichen. - In Anwesenheit der VP wird S auf einen Sessel geschnallt, der einem „Elektrischen Stuhl“ ähnelt. Die Elektroden werden sorgfältig an Armen, Beinen und am Schädel befestigt. - Der schräg hinter VP sitzende VL, der mit einem weißen Kittel bekleidet ist, sagt der VP bei der ersten Weigerung: „Bitte fahren Sie fort!“, bei der zweiten: „Das Experiment fordert, daß Sie weitermachen!“, bei der dritten: „Sie müssen unbedingt weitermachen!“ und bei der vierten: „Sie haben keine Wahl mehr! Sie müssen jetzt weiter machen!“ - Bei den Experimenten mit akustischem Kontakt zwischen VP und S werden der VP folgende Geräusche vermittelt: bei Drücken des 75-V-Knopfes leichtes Knurren, bei 135 Volt schmerzliches Stöhnen, bei 180 Volt der Ruf: „Ich kann den Schmerz nicht mehr aushalten!“, bei 300 Volt verzweifeltes Brüllen, ab 330 Volt keine Reaktion mehr.
Das Ergebnis bezeugt die Macht des funktionalen Gewissen und der Geschlossenen Moral (Anmerkung: Bei einer Geschlossenen Moral wird versucht, die Moral in einem von einer Institution gegebenen festen Regelwerk zu definieren.). Die Norm des funktionalen Gewissens lautet unter "gewöhnlichen Umständen": "Sei dem VL gehorsam, denn es geht um ein wichtiges wissenschaftliches Experiment!" Die Kritikfähigkeit, die diesen Überich-Imperativ relativierte, war entweder gar nicht vorhanden oder sie wurde durch die läppische Versuchsanordnung ausgeschaltet. Die zu einer Norm des funktionalen Gewissens gewordene systemische Regel wurde von etwas 2/3 der der Versuchspersonen befolgt, obschon sie einem sekundären Imperativ nahezu jeder auch Geschlossenen Moral der bestehenden Institutionen: "Du darfst einem hilflosen Menschen, der niemanden bedroht oder gefährdet, keine Gewalt antun!" offensichtlich widersprach. Die Unwirksamkeit kritischer Bedenken gegen das funktionale Gehorsamsgebot sprechen dafür, daß die Versuchsanordnung ein faschistisches System herstellte, das durchaus in der Gehorsamsmoral der bürgerlichen Gesellschaft angelegt war. Vor allem Menschen, deren Kritikfähigkeit nicht besonders geschult wurde (die Forderung nach solcher Schulung gehört nicht zur bürgerlichen Moral), wurden fast hilf- und widerstandslos zu Agenten eines faschistischen Systems. Man wird nicht leicht von persönlicher moralischer Schuld sprechen können, wenn ein Mensch in einer Institution primär sozialisiert, nur über eine Geschlossene Moral verfügt, die sich am Horizont einer Geschlossenen Lebenswelt und vor den Ansprüchen einer Geschlossenen Gesellschaft allein als funktionales Gewissen repräsentiert. Der Begriff der Strukturellen Schuld politischer und sozialer Geschlossener Systeme, die eine Geschlossene Moral als Strukturelement besitzen, bekommt hier seine existentielle Bedeutung. Systeme, die eine Geschlossene Moral einfordern oder auch nur begünstigen - und das sind alle sich selbst überlassenen Institutionen -, können kaum ethischen Normen gerecht werden. Das "höchste Gut" ist unethisch (der Systemerhalt). Güterabwägungen zwischen einem ethischen und einem nichtethischen (etwa einem politischen, kulturellen oder ökonomischen) Gut werden entweder erst gar nicht als eingefordert bewußt oder werden vorschnell zugunsten des nichtethischen Gutes entschieden. Wir können uns leicht vorstellen, wie die bloßgestellte und damit als faschistoid gekränkte bürgerliche Moral auf die Milgram-Versuche reagierte. Nachdem sie im wissenschaftlichen Aufbau (etwa der Statistik) keine Fehler entdecken konnte, behauptetet sie die Unmoral der Versuche. Das war ebenso konsequent wie selbstverständlich. Die Strukturen eines Geschlossenen Systems lassen sich nicht in Frage stellen. Wer sie in Frage stellt, wird als unmoralisch disqualifiziert. Soweit das Zitat aus Rupert Lays Buch. Wie schon Lay schreibt, wäre es Aufgabe einer wirklich ethischen Erziehung, Menschen so vorzubereiten, daß sie einerseits fähig zur Kritik werden und andererseits die Zehn Gebote so verinnerlichen, daß sie auch in solchen Fällen wie bei den Milgram-Versuchen wirksam sind. Und wenn ein derartiger Versuch mit einem solchen für jede Menschlichkeit blamablen Ergebnis ausgeht, so ist das ein sicheres Indiz, daß in der Erziehung etwas nicht geklappt hat. Aus Erfahrung weiß ich, wie die Schüler in einem entsprechenden Religionsunterricht durchaus interessiert an der Behandlung des Problems sind und die Versuche Milgrams in einem entsprechenden Film ("Abraham", im Film war alles nachgestellt) mit Spannung verfolgt haben. Die Auseinandersetzung mit alle dem muß einfach in eine Erziehung gehören, die sich wirklich christlich nennt, am sinnvollsten paßt sie in eine entsprechende Kindererziehung. Und selbst wenn junge Menschen damit anfällig für eine gewisse Anarchie werden, weil sie einfach nicht mehr alles akzeptieren, was "von oben" kommt, dürfte das kaum grundsätzlich von Nachteil sein, denn diese "Anarchie" ist ja verbunden mit menschlichen Spielregeln wie den Zehn Geboten, also es dürfte in jedem Fall zu einer besseren Ordnung für unser Zusammenleben kommen. Siehe auch den Artikel in der WELT vom 24. 09. 2008: "Wir Folterknechte", in dem über eine Wiederholung des Experiments berichtet wird. (Wörterbuch von basisreligion und basisdrama) |