NATÜRLICHKEIT (Basislexikon: kompetent-kritisch-konstruktiv)

NATÜRLICHKEIT.

Bei der Frage, was natürlich und was nicht natürlich ist, stehen wir vor demselben Problem, aus dem heraus etwas wirklich oder unwirklich, richtig oder nicht richtig, echt oder nicht echt, normal oder nicht normal ist, das alles ist sehr oft auch und gerade vom Standpunkt des Betrachters abhängig. So wird ein FKK-Anhänger die (Sexual-)Scham als unnatürlich empfinden und ein normaler Strandurlauber sie als natürlich. Um das Problem bei den Fragen nach wirklich und unwirklich usw. habe ich auf dieser Website jeweils dargelegt, was etwa unter wirklicher Moral oder unter wirklichem christlichen Glauben zu verstehen ist und mich dabei an historischen Fakten und praktischer Anwendbarkeit und Funktionalität orientiert. Ich überlasse es dem Leser, das nachzuvollziehen. Siehe auch Natürliche Moral und Natur.

Zum Problem der Natürlichkeit zitiere ich (mit freundlicher Genehmigung von Verfasser und Verlag) aus dem Buch "Omnisophie" von Gunter Dueck (Seite 21ff.):

5. Das Menschsein muss nach der Natur möglich sein aber die Natur verschwindet!

Eine andere beliebte Annahme auf der Suche nach einem sinnvollen Leben ist diese: Der Mensch soll nach der Natur leben. Darüber diskutieren wir auch heute noch. Ist das Leben in Hochhauswohnungsparzellen nach unserer Natur? Ist Schwulsein auch nach der Natur gut so? Das Aufwachsen in Pampers? Die Natur kommt als Lippenformel immer und immer wieder vor. Wenn Philosophen zu sehr das Tier in uns natürlich finden, so meinen sie, wir alle müssten „unsere böse Natur in uns bekämpfen", die uns die Sünde angeboren sein ließ. Wenn wir glauben, der Mensch sei von Natur aus gut, so fordern wir unentwegt, er müsse nach seiner Natur leben. Die arme Natur muss eben für viele Argumente herhalten, ohne dass wir bis heute zum Beispiel wüssten, ob wir von Natur aus gut oder böse sind. Ist es natürlich, vor Computern ein halbes Leben zu verbringen? Ist es natürlich, sich den Busen operativ so zu korrigieren, damit er natürlich aussieht? Sind normal hässliche Menschen natürlich oder nur die so genannten Topmodels, von denen es ungefähr zehn gibt? Menschen sind von Natur aus lieb, sie sind von Natur aus vernünftig, sie sind von Natur aus faul, sie sehen von Natur aus nur auf ihren Vorteil, sind rattenschlau. Menschen betrügen von Natur aus, wo sie können, was man beim Autofahren inmitten von Blitzanlagen täglich sehen kann. Menschen wollen von Natur aus nur das Eine. Das Eine? Geld. Das Eine? Ruhm. Das Eine? Sex. Die Philosophen wissen offenbar von Natur aus, was das ist: von Natur aus. (Natur ist jedenfalls nicht wie Tier.)

Sie merken schon, was ich sagen will: Von Natur aus benutzen wir den Naturbegriff, um etwas, was wir anpreisen wollen, natürlicher erscheinen zu lassen. Wenn etwas natürlich ist, ist es ja irgendwie als notwendig und unausweichlich bewiesen. In das Natürliche müssen wir alle, und damit auch unsere Kontrahenten, einwilligen. Zur Illustration habe ich einige Zitate zusammengestellt. Wenn Sie schon im vorigen Abschnitt zu viele lesen mussten, blättern Sie einfach zum nächsten Abschnitt weiter. Sie haben dann schon verstanden: Die Sinnsucher zwingen uns, natürlich zu denken, was so viel heißt, dass sie ?,echt haben, weil sie ja so argumentieren, dass alles der Natur nach zugehen muss.

Aristoteles schiebt schamhaft Homer vor (in: Nikomachische Ethik), um zum Thema zu kommen: „So ist die Begierde nach Nahrung in der Natur begründet; im Zustande des Mangels begehrt jeder trockene oder flüssige Nahrung, bisweilen auch beides zusammen, und ein junger kräftiger Mensch, sagt Homer, begehrt des ehelichen Lagers."

Sieht gut aus. Ich runzle die Stirn. Warum zielt das Naturbegehren auf ehelich? Hatten die Griechen nicht eine Vorliebe für Knaben? Ist das Heiraten natürlich? (Wie leben eigentlich Affen? Natürlich? Allein wie Orang Utans oder in Rudeln, in denen sie sich wie Affen paaren?) Aristoteles weiter:

Zwischen Mann und Frau waltet die Liebe von Natur. Denn der Mensch ist durch seine Natur noch mehr auf das eheliche Leben, als auf das Leben im Staate angewiesen, ebenso wie die Familie ursprünglicher und unentbehrlicher ist als der Staat, und wie die Fortpflanzung allem Lebendigen gemeinsamer zukommt. Bei den anderen Wesen reicht die Gemeinsamkeit nur so weit; bei den Menschen aber hat die eheliche Gemeinschaft nicht bloß die Fortpflanzung, sondern alle Zwecke des menschlichen Lebens zum Inhalt."

Sehen Sie? Es geht immer so weiter. Erst ist das Essen und Paaren natürlich, dann das Erziehen der Kinder und die Regeln dazu, schließlich alles ...? Ich beginne zu zweifeln und lese weiter, ob ich noch mehr Natürliches finde. Aha. Da! (Immer noch Nikomachische Ethik): „... denn beides, das Sittliche wie das persönlich Eigene, hat das zum Inhalt, was von Natur eine Quelle der Freude ist."

Nun ist schon das Sittliche des Oberlehrers und auch das persönliche Eigentum natürlich. Natürlich sage ich am Ende dieses Buches auch, dass meine Gedanken völlig natürlich sind. Nehmen Sie mich nicht zu sehr beim Wort. Ich meine dann etwas anderes, eher so etwas wie: intuitiv einfach und unwidersprüchlich.

Cicero weiß irgendwie schon, dass es verschiedene Naturen unter den Politikern oder Menschen gibt, so wie es Esel und Ochsen gibt. Aber die Politiker schließen immer gleich wieder die Augen vor diesen feinen Unterschieden und konzentrieren sich auf das Gemeinsame, das sich besser in Gesetze sperren lässt. Besser wäre es, alle Naturen wären gleich, nicht wahr? Cicero, aus Fünf Bücher über das höchste Gut und Übel:

Sonach beruht bei jedem Geschöpfe das Begehren nach bestimmten Dingen darauf, dass diese Dinge seiner Natur angemessen sind, und das höchste Gut besteht daher in einem naturgemässen Leben und in einem möglichst besten und der Natur angemessensten Zustande. (§ 25.) Da nun jedes Geschöpf seine eigenthümliche Natur hat, so muss auch für Alle als Ziel gelten, dass dieser Natur Genüge geleistet werde; denn es steht dem nicht entgegen, dass der Mensch mit den Thieren und diese unter einander etwas Gemeinsames haben, weil die Natur überhaupt Allen gemein ist, vielmehr wird jenes Höchste und Letzte, was wir aufsuchen, nach den verschiedenen Gattungen der Geschöpfe verschieden sein und jede Gattung wird etwas Besonderes, ihr Passendes haben, wie es ihre eigene Natur verlangt. (§ 26.) Wenn ich daher sage, dass für alle lebende Wesen das Höchste in einem naturgemässen Leben bestehe, so darf man dies nicht so verstehn, als wenn für Alle ein und dasselbe als Höchstes gelten solle. Denn schon bei den Künsten lässt sich als etwas ihnen allen Gemeinsames angeben, dass es sich bei ihnen um die Erkenntniss überhaupt handelt, während jede einzelne Kunst auch ihre besondere Wissenschaft verlangt; ebenso haben auch die Geschöpfe ein Gemeinsames in ihrem naturgemässen Leben überhaupt; aber dabei sind doch ihre Naturen selbst verschieden. So ist sie bei dem Pferde eine andere, wie bei dem Ochsen und eine andere bei dem Menschen; aber dennoch haben auch Alle in der Hauptsache eine gemeinsame Natur, und dies gilt selbst über die lebenden Wesen hinaus für alle Dinge, welche die Natur ernährt, vermehrt und beschützt. So sieht man schon bei den Pflanzen, welche aus der Erde hervorsprossen, dass viele sich selbst das bereiten, was zu ihrem Bestehen und Wachsen erforderlich ist, damit sie ihr letztes Ziel erreichen, und deshalb kann man Alles dies zusammenfassen und unzweifelhaft behaupten, dass alle Naturen überhaupt sich selbst erhalten und als Ziel und Höchstes erstreben, sich in dem für ihre Gattung bessten Zustande zu erhalten. Somit kann man sagen, dass alle natürlichen Dinge ein ähnliches, wenn auch nicht genau dasselbe Ziel verfolgen. Hieraus ergiebt sich, dass das höchste Gut für den Menschen in seinem naturgemässen Leben enthalten ist, d.h. in einem Leben, was der durchaus vollkommnen und in Nichts mangelhaften Natur des Menschen entspricht."

Natürlich erkennt Cicero an, dass es Verschiedenes gibt, wie Affen, Esel, Kamele, Bohnenstroh oder Quark. Aber diese dummen Verschiedenheiten verschwinden auf dem Weg zum Vollkommenen. Der vollkommene Mensch ist relativ eindeutig bestimmt: durch das Gemeinsame, das er vollkommen verkörpert.

Eine ganz gute Taktik besteht also darin, den einheitlich in allen Punkten vollkommenen Menschen für natürlich zu erklären, weil Gott ihn der Natur nach natürlich vollkommen geschaffen hat (Was hätte Unvollkommenes für einen Sinn?). Wenn also der Mensch von Natur aus vollkommen ist, muss er denjenigen folgen und gehorchen, die so lieb sind, ihn vollkommen machen zu wollen. Dann ist er zugleich natürlich geworden.

Eine andere Strategie ist es, die Natur zu bemühen, um den Städtebau zu begründen. Es gibt ein paar Tiere, die schöne Häuser bauen, nämlich die fleißigen Ameisen und die bienenfleißigen Bienen. Sie können auch zur Aufklärung an sich herhalten.

Die einzelnen Menschen befinden sich in gesellschaftlichen Ganzen, innerhalb deren die Individuen sich wie Teile verhalten. Solche Ganze bilden schon Bienen und andere herdenweise lebende Tiere, in einem viel engeren Verbande aber der mit Sprache und Verstand zu diesem Zwecke von der Natur begabte Mensch, welcher das Vermögen der Unterscheidung von Recht und Unrecht besitzt. Diese Gemeinschaft (Koinonie) ist als Familie untrennbar mit Menschendasein überhaupt gegeben, und indem diese zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis sich ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Gemeinschaftsstreben das Endziel der Autarkie, d.h. des völligen Selbstgenügens; ..." (Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften)

In diesem Zitat geht es von den Bienen zur Natur und zum Schluss mündet alles in Autarkie, die ja der Endzweck ist. Darüber war ja schon im vorigen Abschnitt die Rede. Jedenfalls neigt jetzt der Mensch von Natur aus zum Wohnen in Dörfern. Hobbes meint in Grundzüge der Philosophie: ... und deshalb wird der Mensch nicht von Natur, sondern durch Zucht zur Gesellschaft geeignet. Ja selbst wenn der Mensch von Natur nach der Gesellschaft verlangte, so folgte doch nicht, daß er von Natur zur Eingehung der Gesellschaft auch geeignet sei; denn das Verlangen und die Fähigkeit sind verschiedene Dinge . ..."

Und Rousseau: „Wenn aber, was unzweifelhaft feststeht, der Mensch seiner Natur nach gesellig ist, oder es wenigstens seiner Bestimmung nach werden soll, so können ihm auch andere angeborene Empfindungen nicht fehlen, die sich auf sein Geschlecht beziehen; denn schenkt ..." Aus Emil oder Ueber die Erziehung.

Von Natur aus natürlich scheint alles zu sein, was man natürlich vom Menschen fordern würde. Vernunft zum Beispiel. Natürlich möchten wir, dass Menschen vernünftig sind. Locke schreibt in Versuch über den menschlichen Verstand dies: „Deshalb befindet sich der Mensch nach seiner Natur als verständiges Wesen in der Nothwendigkeit, dass er bei seinem Wollen durch sein Denken und sein Urtheil über das Beste bestimmt werde; sonst bestimmte ihn ein Anderes, als er selbst,was ein Mangel der Freiheit wäre. Wenn man leugnet, dass der Mensch bei jedem seiner Entschlüsse seinem eigenen Urtheile folge, so hiesse dies, der Mensch wolle und verfolge ein Ziel, was er, während er danach verlangt und dafür thätig ist, nicht haben mag."

Hören Sie aus der Ethik von Spinoza: „Es gibt in der Natur nichts einzelnes, was den Menschen nützlicher wäre als der Mensch, der nach der Leitung der Vernunft lebt. Denn dem Menschen ist das am nützlichsten, was mit seiner Natur am meisten übereinstimmt (nach Zusatz zu Lehrsatz 31 dieses Teils), d.h. (wie an sich klar) der Mensch. Der Mensch handelt aber absolut nach den Gesetzen seiner Natur, wenn er nach der Leitung der Vernunft lebt (nach Definition 2, Teil 3), und nur insofern stimmt er mit der Natur eines andern Menschen notwendig immer überein (nach dem vorigen Lehrsatz). Folglich gibt es unter den Einzeldingen nichts nützlicher für den Menschen als den Menschen usw."

So kann ich immer mehr zitieren. Wenn ich noch lange weiterzitiere, erscheint uns am Ende fast alles natürlich. Ich bin wohl auch viel zu faul, alle Materie durchzulesen (ein weites Feld voller Dornen und Disteln), nur um hier noch natürlicher zu werden. Ich schließe daher mit Fichte, aus Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten:

... denn unvertilgbar ist ihm der Trieb eingepflanzt, Gott gleich zu seyn. Der erste Schritt aus diesem Zustande führt ihn zu Jammer und Mühseligkeit. Seine Bedürfnisse werden entwickelt; sie heischen stechend ihre Befriedigung; aber der Mensch ist von Natur faul und träge, nach Art der Materie, aus der er entstanden ist. Da entsteht der harte Kampf zwischen Bedürfniss und Trägheit; das erstere siegt, aber die letztere klagt bitterlich. Da bauet er im Schweisse des Angesichts das Feld, und zürnet, dass es auch Dornen und Disteln trägt, welche er ausreuten muss."

Von so einem Zitat können ganze Unternehmergenerationen zehren. Der Mensch ist von Natur aus faul und träge!

Und heute? Es ist natürlich geworden, sich elektrisch zu rasieren. Wir können natürlich nach längerem Stromausfall nicht mehr natürlich leben. Die Verbreitung des Internets wird uns in die virtuelle Welt führen. Virtuell? Das Virtuelle wird als Gegensatz zum Realen gesehen! Wie viel weiter weg ist das Virtuelle vom Natürlichen?

Und dann sagen unsere Werbesendungen: „Das Internet nimmt Ihnen die schrecklichen unnatürlichen Arbeiten ab, mit denen sich der Mensch unnatürlicherweise abplagen muss, um seinen nackten Lebensunterhalt zu verdienen. Die virtuelle Welt befreit den Menschen von Schweiß und Knochenbrechen. Sie befreit im Menschen die natürliche Kreativität. Der Mensch gewinnt im Virtuellen die Freiheit, seiner Natur gemäß glücklich zu sein. Es ist doch nicht natürlich, in ein Auto zu steigen, um nach längerer Fahrt in einer Bank Geld abzuheben. Dafür ist die Natur des Menschen nicht gedacht. Im Internet macht er klick-klick-klick und er hat viel mehr Zeit, seiner Natur nachzugehen." Was der Natur nachgehen heißt, ist mir nicht so klar. Ich glaube, es ist Hamburger essen gemeint.

Verzeihung. Hamburger ergeben eine ziemlich flache, wenn auch vielschichtige Philosophie. Was ich sagen will: Natur hin und her. Natur verschwindet. Als Argument taugt sie kaum noch. In Wirklichkeit werden wir aber durch das Argument der Natur immer noch zu allem Möglichen gezwungen und vergewaltigt. Notfalls sind noch Ohrfeigen natürlich, so wie ph-neutrale Seife, Knoblauchpillen, Lateinlernen oder der Bau von Umgehungsstraßen. Alles ist natürlich, aber bald ist nichts mehr natürlich.