Die Wahrheit hinter
der Legende - zum historischen Jesus.
Aus dem "Stern" vom 17.12.2002 -
mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Eine Staubwolke über dem Horizont verrät ihr Kommen. Bald
darauf blitzen Schilde und Helme in der sengenden Sonne, der karge Boden
erzittert unter dem Tritt der Legionen. Mit dem Hochmut der Großmacht auf ihren
Gesichtern ziehen die Besatzer an Lehmhütten und deren ärmlichen Bewohnern
vorbei. Was sich in den Weg stellt, wird niedergetreten. Denn das mächtige, das
nach dem Willen der Götter einzigartige Rom herrscht ohne Gnade über Judäa und
Galiläa wie fast über die gesamte damals bekannte Welt rund um das Mittelmeer.
Und im Auftrag des fernen, sich zum Allmächtigen aufspielenden römischen
Herrschers werden die Juden bis zum letzten sauer verdienten Schekel
ausgepresst.
In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in
Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum erstenmal, damals war Quirinius
Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu
lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in
die Stadt Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten,
die ein Kind erwartete.
Du
sollst dir kein Bild machen
So beginnt die Lebenslegende, die zwei Jahrtausende geprägt und die Kultur des
christlichen Abendlands geschaffen hat. Doch inzwischen wirkt Maria mit dem
Kinde lieb hierzulande allenfalls noch zu den Weihnachtstagen als
Publikumsmagnet. Wars das also, Jesus? Keinesfalls. Nicht einmal die Kirchen, so
scheint es, kriegen ihn klein. Der Mann aus Galiläa ist immer noch ein Thema,
wenn auch nicht so, wie es die Geistlichkeit vorschreibt. Millionen zog jüngst
die Romanverfilmung von Andreas Eschbachs Jesus-Video vor den Fernsehschirm. Mit
Hollywood-Aufwand dreht Mel Gibson derzeit Die Passion über die letzten zwölf
Stunden im Leben des vermeintlichen Gottessohnes. Und Xavier Naidoo,
Deutschlands erfolgreichster HipHopper, singt vor ausverkauften Hallen Alles für
den Herrn. Ohne Kirchenanschluss, aber voller Überzeugung. Die Glut glimmt
weiter, auch wenn das Feuer des traditionellen Glaubens für viele längst
erloschen ist.
Dabei ist Jesus von Nazaret
eine der verschwommensten Gestalten der Geschichte wie die meisten
Religionsgründer, die gerade deswegen reichlich Raum zur persönlichen
Identifikation geben: Jedem seinen Jesus. An die zwei Milliarden Menschen
bekennen sich heute zumindest per Taufschein zu diesem Messias. Sein offizieller
Geburtstermin markiert den Anfang der heute international üblichen Zeitrechnung,
und wenn derzeit bei uns heftig über Ladenöffnungen am Sonntag gestritten wird,
dann steht selbst bei solchen Lappalien der Welten Heiland im Hintergrund. Denn
es geht um den Tag des Herrn.
Wir müssen eins immer im Kopf behalten: Keines der kursierenden Jesus-Bilder ist
neutral, warnt Professor Gerd Theißen, Neutestamentler an der Universität
Heidelberg und Spezialist für den historischen Nazarener. Immer sind
irgendwelche Interessen verwoben. Sei es der Wunsch, lieb gewordene Traditionen
zu wahren, oder umgekehrt auch der Versuch, sich durch ein ganz anderes Bild
Jesu von der Kirche, mit der einer vielleicht hadert, abzusetzen.
Dank seines fruchtbaren Bodens ist Galiläa zur Zeit Jesu eines der am dichtesten
besiedelten Gebiete des Römischen Reiches, hat aber wegen seiner geringen Größe
trotzdem nur etwa 250000 Einwohner. Die meisten wohnen in bescheidenen Dörfern.
Es ist diese von einfachen Bauern und Handwerkern wie seinem Vater geprägte
Landschaft, in der Jesus offenbar fast sein ganzes Leben verbringt.
Doch auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die wie jüngst eine Inschrift aus dem
ersten Jahrhundert wieder ein wenig Licht auf die Gestalt des Josefssohns
werfen, beleuchten ihn historisch gesehen nur schwach. Und Reliquien wie das
Turiner Grabtuch helfen auch nicht weiter. Eben erst prüften russische Forscher
die Datierung. Es bleibt dabei: 14. Jahrhundert, eine fromme Fälschung. Bei
einem, über den wir so wenig Gesichertes wissen, ist es leicht, sein Bild so
lange zu retuschieren, bis es gefällt oder nützt.
Jesu frühe Anhänger heben
ihren am Kreuz getöteten Meister mit aller Fantasie des Morgenlandes in den
Himmel. Per Mundpropaganda zunächst. Was dann Jahrzehnte später an Erinnertem
und Ersonnenem auf eine der damals gebräuchlichen Buchrollen passt, wird
aufgeschrieben und zur Quelle der heutigen Evangelien. So bekommt Jesus,
gestutzt und geschminkt, seine gewohnten Konturen und wird endgültig zum
Christus. Das sagt nicht ein gottloser Ketzer, sondern so gut wie jeder
Theologieprofessor seinen Studenten in den Vorlesungen und, wenn er sich was
traut, auch den Laien draußen vor der Uni.
Auch wer Jesus lange nach dessen Tod nachfolgt, sucht seine Nähe. Um den Heiland
bei sich zu haben, kleiden mittelalterliche Maler die biblischen Gestalten à la
mode und errichten den Geburtsstall im Flämischen oder auch am Rhein. Und selbst
den Nazis kommt dieser Messias zupass: Der wunderwirkende Jude wird schamlos
arisiert, wo nötig blond gefärbt und gegen das angeblich gottverfluchte Volk der
Christusmörder gedreht Jesus als Kronzeuge für die Endlösung. Die perverse
Argumentationskette war nicht einmal neu. Auch schon tausend Jahre zuvor und
immer wieder danach dienten die Evangelien zur Rechtfertigung von Hetze und
Verfolgung. War Jesus nicht durch die Juden ans Kreuz gekommen? Und es waren
ihre eigenen Worte sie standen doch in der Bibel! , mit denen sie sich die
Verdammung herbeigeredet hatten: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder. O
Matthäus, o ihr Evangelisten, das Blut Unschuldiger ist wohl längst auch über
euch gekommen! Jesu Geschichte und Geschichten bilden nach zwei Jahrtausenden
ein nur noch schwer zu trennendes Gemenge. Wer dem wahren, dem historischen
Nazarener begegnen will, dem bleibt nichts anderes, als geduldig wie ein
Archäologe vorzugehen. Mit Zahnbürste und feinem Pinsel muss Schicht um Schicht
abgetragen werden, damit sich am Ende vielleicht offenbart, was Staub und Patina
verborgen haben. Und auch notorischen Geschichtsbegradigern aller Jahrhunderte
kommt man so am besten auf die Spur.
Auf das Neue Testament ist nur beschränkt Verlass, denn dessen Autoren wollten
Glauben säen, nicht Zweifel. Tatsächlich gibt es nichtchristliche Quellen. Und
das ist überraschend bei so einer Gestalt, räumt Theißen ein, die zu ihrer Zeit
völlig am Rand des Weltinteresses stand und ja erst durch ihre
Wirkungsgeschichte zu dem wurde, was sie heute ist. Doch schon wieder ist
Vorsicht geboten. Denn auch jüdische oder römische Schriftsteller mussten sich
Jahrzehnte nach den vermeintlichen Ereignissen auf Gerüchte und Legenden
verlassen. Abgesehen davon interessierte sie dieser seltsame Jude auch nicht
sonderlich, und sie erwähnten ihn nur in kurzen, oberflächlich gefassten
Passagen. Die folgenden Jahrhunderte über wurden dann auch solche heidnischen
Texte in christlichen Klöstern fein säuberlich abgeschrieben und überliefert.
Dass Mönche dabei, wo es ihnen passend und hilfreich schien, kleine Ergänzungen
gemacht haben, sagt Gerd Theißen nachsichtig schmunzelnd, ist nicht nur möglich,
sondern wahrscheinlich. Trotzdem geht die Wahrheit nicht völlig in Dichtung
unter. Denn Vergleiche mehrerer Fassungen lassen wenigstens einige Ereignisse so
durchscheinen, wie sie sich wohl zugetragen haben.
Tacitus zum Beispiel, geboren Mitte des ersten
Jahrhunderts, römischer Aristokrat und Historiker, schreibt über eine lästige
Sekte aus der Zeit des berüchtigten Zündelkaisers Nero, die Christiani: Dieser
Name stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus
hingerichtet worden war. Dieser verderbliche Aberglaube war für den Augenblick
unterdrückt worden, trat aber später wieder hervor und verbreitete sich nicht
nur in Judäa, wo er aufgekommen war, sondern auch in Rom, wo alle Greuel und
Abscheulichkeiten der ganzen Welt zusammenkommen und geübt werden. Nicht nett,
doch ein Anfang. Im Detail ist Tacitus aber nicht fehlerfrei, denn auf einer
1961 in Cäsarea entdeckten Steintafel bringt es Pilatus nur zum bescheideneren
Titel eines Präfekten. Ganz egal. Jedenfalls hat diese Hauptfigur der tradierten
Leidensgeschichte Jesu wirklich gelebt. Den ärgerlichen Juden, dessen Anhänger
nicht von seinen Lehren lassen wollten, erwähnen auch die Römer Plinius der
Jüngere und Sueton. Den Namen Jesus verwendet allerdings keiner. Anscheinend
hielten sie den aus dem Griechischen stammenden und ihnen nicht geläufigen
Messiastitel eines Christus (der Gesalbte) für den Eigennamen. Und Sueton,
Rechtsanwalt und erfolgreicher Kaiserbiograf, hat sogar damit seine
Schwierigkeiten, als er aus dem Leben des humpelnden und sabbernden Herrschers
Claudius erzählt: Die Juden, die von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe
stifteten, vertrieb er. Ob sich dieser Abschaum nun mit e oder i schrieb, was
für einen Unterschied machte das für einen römischen Ritter, den die kaiserliche
Sonne wärmte?
Zumindest bezweifelt keiner dieser Autoren, dass es ein paar Jahrzehnte zuvor
diesen so genannten Christus gegeben hatte. Auch seine Hinrichtung ist mehr als
nur wahrscheinlich. Und selbst wenn Einzelheiten seines Lebens in diesen Quellen
kaum zu finden sind, gibt es doch bei einem frühen jüdischen, in römischen
Diensten stehenden Schriftsteller namens Josephus Flavius einen spannenden
Familienbezug, der erst vor kurzem enorm an Gewicht gewonnen hat. Josephus
berichtet da von einer Sitzung des jüdischen Hohenrates im Jahr 62, bei der
Todesurteile ausgesprochen wurden. Einer der Gesteinigten wird von Josephus
genauer benannt: der Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen
Jakobus. Der vermutlich echte und unübliche Hinweis auf den Bruder des Toten
wäre überflüssig, wenn diesen Jesus damals keiner gekannt hätte.
Jesus hatte also nicht nur Eltern, sondern sicher auch leibliche Geschwister,
was wegen der zum katholischen Dogma erhobenen allzeitlichen Jungfrauenschaft
Mariens eigentlich nur noch der römischen Glaubenskongregation Probleme
bereitet. Dass der Nazarener damals auch eine zumindest lokale Berühmtheit war,
bekräftigt eine jetzt entdeckte antike Zeile diesmal eingeritzt in die Wand
einer etwa einen halben Meter langen Knochenkiste aus Kreidestein. Solche
Ossuare dienten der Zweitbestattung von Toten. Dabei wurden die nach der
Verwesung übrig gebliebenen Knochen aus wieder verwendbaren Gräbern genommen und
in solche Minisärge gelegt. Die vom Pariser Inschriftenexperten André Lemaire
entzifferte und nach allen bisherigen Untersuchungen echte Gravur besagt
Sensationelles: Danach enthielt das jetzt leere und über den Antiquitätenhandel
an die Wissenschaft gekommene Ossuar einmal die Knochen eines Jakobus, Sohn des
Josef, Bruder des Jesus Jeschua steht dort in Aramäisch, der Sprache Jesu.
Nun nennt allein Josephus in
seinen Schriften ein gutes Dutzend verschiedene Personen Jesus. Kein unüblicher
Name also. Was die schmucklose Kiste aber trotzdem aufregend macht, ist die
ziemlich unwahrscheinliche Kombination von drei Namen: Jakobus, Josef, Jesus
Bingo? Letzte Gewissheit ist im Bibel-Business eine Rarität. Statistisch, so
rechnet Lemaire vor, könnte es etwa 20 Menschen mit dem Namen Jakobus gegeben
haben, deren Vater Josef und Bruder Jesus hieß.
Trotzdem fällt nun etwas mehr weihnachtliches Licht auf die ansonsten in tiefem
Dunkel liegende Kindheit Jesu. Am besten wissen die Gelehrten offenbar, was
nicht war: Krippe, Engel, Heilige Könige. Wer als ein ganz besonderer Mensch
dargestellt werden sollte, sagt der Neutestamentler Theißen, musste nach den
orientalischen Traditionen auch auf ganz besondere Art zur Welt gekommen sein.
Kosmisch angekündigt von einem eigenen Stern zum Beispiel und geboren von einer
Jungfrau Analogische Fantasie nennt Theißen solche Juwelen historischer
Legendenbildung, die allerdings nicht sehr originell sind. Vor Jesus schmückten
sie schon ägyptische Pharaonen und Herrscher auf dem Thron Babylons. Und auch
die griechische Mythologie ist voll von wundersam gezeugten Halbgöttern.
Aber lassen wir die schwangere Verlobte des Josef, wohl die Einzige ihrer Art,
die je Verehrung durch den Vatikan erfuhr, in Frieden und wenden uns der
Aufstellung von Steuerlisten zu. Denn die zeigt anschaulich, mit welchen Tricks
uns schon die ersten Treuen des Tempelreinigers vom Lande über den Altar zu
ziehen versuchten. Wegen der Steuerschätzung doch, so erzählt Evangelist Lukas,
macht sich Josef mit seiner werdenden Familie von Nazaret in Galiläa auf nach
Betlehem in Judäa. Denn Josef ist was wahrscheinlich sogar stimmt aus dem
königlichen Hause Davids. Und das hat dort, ein paar Kilometer südlich von
Jerusalem, seinen Ursprung, wie schon das Alte Testament versichert.
Doch das wäre ein schönes Durcheinander geworden. So lassen sich
vernünftigerweise auch dann keine Steuerlisten aufstellen, wenn ein Land nur
über eine Metropole mit vielleicht 30 000 Menschen verfügt Jerusalem. Nur zu
religiösen Festzeiten quoll die Stadt über und musste zehnmal so viel Pilgern
Quartier bieten, die den Segen des Tempels suchten. Sepphoris, das Zentrum des
rund 100 Kilometer nördlich gelegenen Galiläa, war sogar noch kleiner als
Jerusalem. Trotzdem konnte ein römischer Herrscher eigentlich nur in der
Propaganda seiner Feinde so dumm sein, eine Steuerschätzung nach Art des
Evangelisten Lukas anzuordnen und damit eine, wenn auch ziemlich mickrige
Provinz auf den Kopf zu stellen. Tatsächlich gibt es dafür außerhalb der Bibel
keinen einzigen Beleg. Üblich war vielmehr schon in der Antike, wie es unsere
Finanzämter noch heute halten: Besteuert wird einer da, wo er wohnt.
Und da ist noch ein Problem: Augustus, Adoptivsohn Gaius Julius Cäsars und nach
dessen Ermordung und ein paar lästigen Scharmützeln römischer Kaiser bis zum
Jahr 14, ließ, so sagen die Akten, keine einzige reichsweite Steuerschätzung
durchführen. Für das Gebiet von Judäa, Samaria und Idumäa allerdings gab es eine
Volkszählung um das Jahr sechs. Damals war Augustus auch noch Kaiser in Rom und
ein Publius Sulpicius Quirinius bei Lukas erwähnt Legat in Syrien. Doch Herodes,
von Roms Gnaden König von Judäa und vermeintlicher Babyschlächter von Betlehem,
war da schon etwa zehn Jahre tot und Jesus, glaubt man den Evangelien, längst
geboren: zur Zeit des Herodes, des Königs von Judäa das Ganze knirscht recht
unangenehm.
Die berühmte Geburtsgeschichte des Lukas und auch das meiste von seinem Kollegen
Matthäus der mit dem Stern über dem Stall , all die vertrauten Worte, die nach
Spekulatius schmecken und in uns monumentale Breitwandbilder mit jubilierenden
Engelchören wecken, sie sind in den Augen kritischer Theologen religiöse
Dichtung. Mehr oder weniger gekonnt konstruierte Propaganda wäre vielleicht
treffender gesagt. Und das gilt, wie Forschungen aus inzwischen zwei
Jahrhunderten zeigen, nicht nur für die weihnachtliche Stimmung, die Lukas und
Matthäus verbreiten.
Wenn Jesus im Stall von Bethlehem geboren sein soll, dann nicht wegen einer
abstrusen Volkszählung, sondern aus ideologischen und schon im Alten Testament
verwurzelten Gründen: Aber du, Bethlehem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas,
aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll. Micha heißt
der Prophet, der das weissagt. Und wie könnte die göttliche Planung sich besser
beweisen, als durch eine Erfüllung solcher Ankündigungen? Nun wusste damals aber
dummerweise offenbar so gut wie jeder in dieser Gegend, dass Jesus aus Nazaret
stammte, einem winzigen Nest in Galiläa, das bis heute untrennbar mit seinem
Namen verbunden ist. Also schiebt Lukas die Geschichte ein bisschen zurecht,
lässt die tatsächliche Volkszählung des Quirinius ein paar Jahre eher
stattfinden und dehnt sie gleich auf die ganze römische Welt aus. Auch große
Teile der restlichen Aufzeichnungen der Evangelisten Lukas und Matthäus sind aus
historischer Sicht mit größter Vorsicht zu genießen. Ebenso die der beiden
anderen Autoren, die es per Beschluss der späteren Kirche in den Kanon der
offiziellen Bibel geschafft haben: Markus und Johannes. Frühe Jesus-Biografen
wie Thomas oder Petrus die durchweg unbekannten Schreiber bedienten sich dieser
Jüngernamen vermutlich, um für ihre Werke Eindruck zu schinden hatten weniger
Glück und wurden nicht in die Bibel aufgenommen. Doch auch sie folgten in
bewährter antiker Tradition dem Strickmuster ihrer kanonisierten und trotz der
klingenden Namen persönlich ebenfalls so gut wie unbekannten Kollegen: da
schwarz, hier weiß. Dort zum Beispiel die dummen und brutalen Römer, hier die
geknechteten Juden. Da die verstockten Pharisäer oder machtbesessenen Priester,
hier das verkannte Heil der Welt in Gestalt des mildtätigen Nazareners Seht, das
Lamm Gottes. Und wie in jedem Drehbuch dieses Genres wird die Geschichte
dramatisch zum Höhepunkt getrieben. Schließlich stockt einem der Atem, weil es
für den Helden kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Und so siegt das Böse, der
Gerechte bricht gefällt vom Widersacher zusammen. Doch immer wenn du denkst, es
geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her im Neuen Testament heißt
das Happy End: Auferstehung und Himmelfahrt.
Von der Geburt des Galiläers bis dahin vergehen rund 30 Jahre. Aber was bringt
ein Landei jener Tage dazu, sich für den Erwählten zu halten? Und was macht
andere glauben, er habe damit sogar Recht? Die Zeiten waren offenbar danach.
Denn Jesus ist einer unter vielen, die durchs Land zogen, Wundersames
vollbrachten und Wandel, wenn nicht Revolution predigten. Dabei beriefen sie
sich auf den Glauben der Väter, die von Mose geführt und Gott Jahwe gesegnet ins
gelobte Land am Jordan gekommen waren. 63 vor Christus waren auch die Römer bis
dorthin vorgedrungen und setzten gefügige Vasallen ein. Dabei stand längst nicht
an jeder Ecke Palästinas ein wachsamer Legionär, wie es in Bibelfilmen gern der
Fall ist. Höchstens 30000 Soldaten waren vor allem im nordöstlich gelegenen
Syrien stationiert, weit weniger als in Ben Hur Statisten auftraten. Und sie
wurden wohl nur dann gen Jerusalem in Marsch gesetzt, wenn es dort brenzlig
roch. Auch Präfekten wie Pontius Pilatus hielten sich vom merkwürdigen
Tempeltaumel der Juden lieber fern und residierten stattdessen die meiste Zeit
in Cäsarea am Meer, wo man weitgehend unter sich war und beim sehnsüchtigen
Blick über die Wellen von Rom träumen konnte.
Obwohl es also hätte
schlimmer kommen können, war die Besatzung vielen Juden ein Ärgernis, um es
milde zu formulieren. Denn da trafen zwei Kulturen mit Weltanspruch aufeinander,
sagt Gerd Theißen. Die Supermacht vom Tiber war sich gewiss, nur sie allein
könne Ordnung schaffen in der Welt und die Pax romana. Aber war das der Frieden,
den der eine und einzige Gott seinem Volk verheißen hatte? War es zu dulden,
wenn alle möglichen Götter, eigene und geborgte, Platz hatten im römischen
Pantheon? Frevel, schrien die Orthodoxen. Und dann gab es noch die
Kollaborateure, die wie Herodes Bücklinge vor den heidnischen Herren machten, um
ihre Pfründen zu wahren. Auch die Religion war, so gut es ging, in römischer
Hand. Ohne den Segen der Besatzer hätte jedenfalls kein Kaiphas den Hohen Rat
anführen können. Auch diesen obersten Priester, der Jesus das Ende seines Lebens
schwer machte, gab es tatsächlich. Vor zehn Jahren etwa wurde das Grab seiner
Familie entdeckt.
Trotz des blumigen Beiwerks im Evangelium muss es dann in dieser brodelnden
Atmosphäre irgendwann wirklich zur Begegnung Jesu mit seinem Vorläufer gekommen
sein: Johannes, dem düsteren asketischen Täufer am Jordan. Denn dieses Ereignis
ist so voll Peinlichkeiten für die frühe Christenideologie, da sind sich heute
die Exegeten einig, dass es wohl verschwiegen worden wäre, hätten nicht viele
damals davon gewusst. Jesus ließ sich also taufen. Wie aber war das mit seiner
später proklamierten Vorrangstellung zu vereinbaren? Hätte nicht er Johannes ins
Wasser tauchen müssen? Schlimmer noch: Die bei den Juden auch vorher bekannte
rituelle Waschung sollte der Tradition nach Sünden tilgen. Wie aber konnte der
Sohn Gottes überhaupt gefehlt haben? Da hilft nur noch theologisches Tricksen.
Und diesen Part übernimmt dann der Evangelist mit Namen Johannes, indem er die
von seinem Meister zum Jordan getragenen Verfehlungen flugs zur Sünde der Welt
macht und Jesus zum Lamm Gottes, das sie für die anderen trägt. Dank sei dem
Herrn, so stimmt es wieder. Eine geniale Lösung, sagt Theißen.
Aber was bleibt denn noch? Für Aufsehen muss der Mann aus Galiläa, der in diesem
Gebiet, kleiner als das Saarland, fast sein ganzes Leben verbracht hat, doch
gesorgt haben. Sonst wüssten wir heute nicht von ihm. Ein weiterer überlieferter
Text des bekannten Josephus Flavius nennt Jesus einen gerechten und guten Mann,
der aus göttlicher Gnade durch Zeichen und Wunder kundgetan wurde und vielen
Gutes tat. Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen, Brotvermehrung. Zauberei
werfen ihm später jüdische Rabbiner vor. Doch natürlich war Jesus kein antiker
Harry Potter, und er lernte in Nazaret fürs Leben, nicht in Hogwarts. Trotzdem
muss er über ein imponierendes Charisma verfügt haben. Eine große Anhängerschaft
ist bezeugt, auch Frauen das ist nicht selbstverständlich gehören in seine
direkte Umgebung. Wie er als Mensch lebte, nicht als Messiaskandidat, das lässt
sich nur noch ahnen. Aber er half wohl vielen, denen es dreckig ging, wieder auf
die Beine. Und solche Wunder wirkt er offenbar bis heute.
Hat er geglaubt, der Sohn
Gottes zu sein? Keiner weiß wirklich, was ihn angetrieben hat und schließlich
auf den Weg nach Jerusalem brachte, der sein letzter werden sollte. Wie viele
seiner Zeitgenossen scheint er überzeugt gewesen zu sein, dass sich damals die
Geschichte ihrem Ende und auch ihrer Vollendung näherte. Apokalypsenstimmung
machte sich breit, vom nahen Reich Gottes predigte offenbar Jesus, und das ließ
mindestens die Römer aufhorchen. Irgendwer musste doch die verfahrene Lage des
auserwählten Volkes beheben. Auf die Gewalt der Waffen vertrauten da die
aufständischen Partisanen der Zeloten. Jesus setzte dagegen die Macht des
Wortes, der Zeichen und der Besinnung auf sich selbst. Kraft, die von innen
kommt, kein unmodernes Rezept. Nicht die Römer und ihre Vasallen mussten
geschwächt, sondern der eigene Glaube stärker werden. Die Opposition zu den
herrschenden Verhältnissen ist trotzdem offensichtlich: Auch den Römern gilt
eine Friedensbotschaft, die nicht stampfend mit Panzer und Helm daherkommt. Und
der Dekadenz der Tempelaristokratie setzt Jesus das Lob der unteren
Schichten entgegen Selig die Armen. So kommt es zum letzten Akt in Jerusalem.
Auch hier ist die Datenlage verworren. Vermutlich im Jahr 30, nach höchstens
drei Jahren öffentlichen Auftretens vor allem auf dem galiläischen Land,
erreicht Jesus mit seinen Anhängern das Zentrum, die zum Passahfest überfüllte
Stadt des Tempels. Und auf den, von Herodes prachtvoll ausgebaut und damals für
das Stadtbild so dominant wie die Goldkuppel des Felsendomes heute, hat es der
Nazarener offenbar abgesehen. Was er wirklich sagte, was er tat, die Vertreibung
der Händler etwa, bleibt im Nebel der Geschichte. Doch es muss bedrohlich
gewesen sein: für die Tempelkaste der Sadduzäer und auch für die Besatzer aus
Rom, die bei solchen Festen waffenstarrende Präsenz zeigten. Wie Tausende vor
und nach ihm stirbt der eifernde Aufrührer, von Pilatus zum Tode verurteilt,
schließlich halbnackt am Kreuz. Eine entwürdigende Hinrichtungsart, die Rom aus
dem Orient übernommen hat.
Und dann? Auferstehung? Eines ist jedenfalls sicher: Das Ende des Jesus wird zum
Anfang des Christus.
Frank Ochmann
Einen Leserbrief
dazu an den STERN finden Sie HIER!
Zur Fortsetzung siehe
www.basisreligion.de!
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