DER BESUCH DER ALTEN DAME.
Aus der Mail an eine Schülerin (17), die mir
geschrieben hatte, dass sie Goethes Faust besprechen und dass dabei der
Lehrer behauptet hätte, dass Gretchen eine starke Frau sei, weil sie
sich schließlich geweigert habe, befreit zu werden, und lieber das
Urteil ertragen und hingerichtet werden wollte.
Dazu
basisreligion:
Natürlich,
so kann man es auch sehen, doch kann man nicht alles so drehen, dass
noch etwas Positives dabei heraus kommt? Doch was ist denn da wirklich
los gewesen? War nicht vielmehr Gretchen in dem ganzen Stück die
regelrecht Verarschte?
Siehe
dazu
unter Faust - Gretchen.
Ich
habe
mal
in
dem
Theaterspielplan der Stadt nachgesehen, in der die
Schülerin wohnt, was es für Theaterstücke gibt. Und ich fand "Der
Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt (1921 - 1990, das Stück
ist von 1956). Ja hier
gibt es nun eine wirklich starke Frau!
Also
an
das
Mädchen:
Wie wäre es, wenn Du mal - so richtig schön nach
Bildungsbürgerart, selbst wennn Ihr keine typischen Bildungsbürger sein
solltet -
Deine Eltern mal motivieren würdest, mit Dir ins Theater oder in die
Oper zu gehen? Oder zumindest mit Deinem Vater? Also der "Besuch der
alten Dame" ist ein Stück, dass ich unbdingt
empfehlen kann - jedenfalls muss das vermutlich mich, als ich das
ziemlich genau in Deinem Alter vor etwa fünfzig Jahren hier in Köln im
Theater sah, sehr
geprägt haben...
Und zwar geht es in dem typisch spießigen (fiktiven) Schweizer
Städtchen Güllen (Dürrenmatt ist Schweizer, doch das Städtchen kann
überall in Europa sein, ja der Name kommt auch wirklich von "Gülle"!)
um das
Mädchen Kläre, die mit einem Jungen eine Affäre
hatte und die er, als sie
schwanger wurde, nicht mehr haben wollte. Um eine Vaterschaftsklage
abzuwenden, brachte er vor Gericht zwei Kameraden als Zeugen, die
angeblich auch
mit ihr "was" hatten und das wohl auch noch beschworen... Tief verletzt
ging sie nach Hamburg, wo sie "auf
dem Strich" landetete - und fand dort den Milliardär Zachanassian, der
sie auch heiratete. Als der
starb, hinterließ er ihr drei Milliarden (die Währung ist nicht
genannt). Und von dem
Geld ließ sie durch Mittelsleute alles in ihrem Heimatstädtchen
alles, was nur möglich war, aufkaufen und regelrecht kaputt gehen oder
verkommen... Und dann
meldete sie sich zum
Besuch an - daher der Titel - und versprach, das Städtchen wieder zum
Blühen zu bringen. Sie wollte dem Städtchen "eine Milliarde" vermachen
und davon würde die Stadt die
Hälfte bekommen und der Rest zu gleichen Teilen auf alle Einwohner
verteilt werden. Die Bedingung sei, dass dieser Freund von damals, der
inzwischen
angesehener Lehrer in dem Städtchen ist, umgebracht würde... Die Leute
lehnen das Angebot natürlich entrüstet ab - doch langsam fangen sie an,
selbst teure Dinge zu kaufen, auf Pump, und sogar in dem Geschäft der
Frau ihres früheren Freundes. Der (Alfred Ill) bemerkt das natürlich
und bekommt es mit der Angst zu tun. Zunächst stehen sie natürlich
hinter Ill, doch langsam fangen sie an, sich über sein Vergehen in
seiner Jugend zu entrüsten. Ill akzeptiert schließlich seinen
möglichen Tod, der ihm dann auch inmitten der Menge seiner Mitbürger
widerfährt. Der Bürgermeister erhält den Scheck über eine Milliarde...
Es
geht
wohl weniger darum, wie sich Kläre, jetzt Claire, ihrem Freund
gegenüber verhält (denn das könnte ja nach primitiver Rache aussehen,
doch ich halte die Bedinung seines Todes für einen stilistischen
Einfall von Dürrenmatt), sondern es geht darum, wie sie den Bürgern des
Städtchens deren
Spießigkeit brutal vor Augen hält, deren
Scheinmoral... Ja, diese Kläre, die ist nun wirklich eine starke Frau!
Wäre das nichts?
Natürlich eignet sich das auch für einen Besuch mit der Klasse, ob Du
den nicht einmal vorschlagen kannst - so sozusagen als Kontrast zum
Gretchen im Faust...
Ich kann jedenfalls gleich sagen, das ist ein tolles Stück -
insbesondere auch für alle die, die noch nie im Theater waren,
zumindest noch nie so richtig. Daraus ergeben sich mit Sicherheit
Gespräche. Und ob man sich das etwa so einfach machen kann wie wir
heute, den
Mädchen Kondome zu geben, damit keine Schwangerschaft passiert? Ob es
hier nicht um mehr geht? Ob eine
Verletzung nicht auch gewesen wäre, wenn Kläre nicht schwanger geworden
wäre und ihr Freund hätte sie sitzen gelassen? Und Du könntest von
daher auch anderen erklären, warum Du nach einer echten Lösung
suchst...
Und noch einmal zum Faust: Der südamerikanische
Literasturnobelpreisträger Gabriel García Marquez hat in seinem letzten
(z. Zt.) Buch "Erinnerung an meine traurigen
Huren" dasselbe Thema verarbeitet, also "alter Mann will endlich
mal Sex mit einer Jungfrau" haben. Doch die Geschichte verläuft völlig
anders...
In
der Zeitung "Die Welt" vom 11. 12. 2010 ist übrigens ein hübscher
Bericht "Er
lachte über den Wahnsinn der Welt" von Hellmuth Karasek, wie er
Dürenmatt zu seinem Geburtstag gratuliert. Und Dürrenmatt erzählt, wie
er nach dem ähnlichen Verfahren, wie die "Alte Dame" das Städtchen
Güllen gekauft hatte, einem alten Weinbaron seinen unglaublichen
Weinkeller zu einem Schleuderpreis abgekauft hatte... Hier wird die
Inhaltsangabe so wieder gegeben: "Zur Erinnerung: Dürrenmatts Stück
handelt von der Liebesrache einer Verstoßenen, die sich die Ermordung
ihres Jugendfreundes kauft, indem sie eine ganze Stadt kauft; die
Hauptrolle spielte Ingrid Bergman." Na ja, ich meine,
das ist zu kurz "geschossen"...
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