Einführung in das Shôbôgenzô

Einführung in das Shôbôgenzô

von Gudô Wafu Nishijima Rôshi

1. Meister Dôgens Leben und das Shôbôgenzô

Meister Dôgen wurde nach der westlichen Zeitrechnung im Jahr 1200 in Kyôto geboren. In diesem Jahr feiern wir also seinen achthundertsten Geburtstag. Mit 12 Jahren trat er in das Kloster Enryaku ein, das zur Tendai-Schule gehörte. Nachdem Dôgen dort drei Jahre lang eingehend die theoretischen Grundlagen der Buddha-Lehre studiert hatte, wollte er eine stärker auf die Praxis ausgerichtete Schulung kennen lernen. Er trat daher in das Kloster Kennin ein, das von Meister Eisai geführt wurde und zur Rinzai-Schule gehörte. In der Rinzai-Schule werden bei der Übungspraxis große Anstrengungen unternommen, um die Erleuchtung zu erlangen. Aber Meister Dôgen befriedigte diese Praxis nicht, und so entschloss er sich, die Ursprünge der buddhistischen Praxis in China selbst zu suchen. Nach einigen Jahren vergeblicher Suche begegnete er dort schließlich seinem Meister Tendô Nyojô, der ihn die Einheit von Praxis und Erleuchtung lehrte. Da erkannte Dôgen den wahren und tiefen Sinn der Übungspraxis im Buddha-Dharma. Nachdem Dôgen mit 27 Jahren nach Japan zurückgekehrt war, verbrachte er wieder einige Jahre im Kloster Kennin. Dann gründete er sein eigenes Kloster, das Kôshô-ji im südlichen Bereich von Kyôto, und begann die Praxis des Zazen und den Buddha-Dharma zu lehren. Als er 36 Jahre alt war, wurde unter seiner Leitung im Kloster Kôshô-hôrin die erste Zazen-Halle in Japan erbaut, die speziell der Zazen-Übung diente.

Meister Dôgen lebte und lehrte im Kloster Kôshô-hôrin etwa zehn Jahre. Mit 43 Jahren verließ er Kyôto und ließ sich in der Provinz Echizen (heute Fukui) nieder und gründete ein neues Kloster, dort wo sich das heutige Kloster Eihei befindet. Dort widmete er die folgenden zehn Jahre seines Lebens der Verbreitung der Zazen-Praxis und der Lehre des Buddha-Dharmas. Als er mit 52 Jahren krank wurde, übergab er die Leitung des Klosters seinem wichtigsten Schüler und Nachfolger Kôun Ejô. Bald nachdem Dôgen nach Kyôto zurückgekehrt war, starb er dort im Alter von 53 Jahren.

In all diesen Jahren seiner Lehrtätigkeit hielt Meister Dôgen viele Dharma-Vorträge für Mönche, Nonnen und Laien und verfasste eine Vielzahl von Schriften. Einige davon sollen hier genannt werden: das Fukan zazengi (»Allgemeine Richtlinien für Zazen«), das Gakudô yôjinshû (»Sammlung der wesentlichen Eckpunkte für das Studium des Weges«), das Shinji shôbôgenzô (»Die ursprünglichen Schriftzeichen des Shôbôgenzô«), Dôgens Zusammenstellung der 301 kôan in ihren ursprünglichen chinesischen Schriftzeichen, sein umfangreiches Hauptwerk, das Shôbôgenzô (»Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges«), das Eihei shingi (»Die reinen Regeln von Eihei«), das Eihei kôroku (»Die weiten Aufzeichnungen von Eihei«) und andere.

Wir können das Shôbôgenzô zweifellos als die wichtigste seiner Schriften ansehen. In diesem Werk, das die Aufzeichnungen von Dôgens Dharma-Vorträgen zu den zentralen Fragen und Themen des Buddhismus beinhaltet, beschreibt Meister Dôgen auf Grund seiner eigenen tiefen Erfahrung die Lehre und die Übungspraxis des Buddha-Dharmas im großen Zusammenhang und in allen wesentlichen Einzelheiten, sodass wir durch das Studium des Shôbôgenzô eine sehr genaue Kenntnis von Dôgens authentischer buddhistischer Welt erhalten. Und hier liegt aus meiner Sicht der große Wert des Shôbôgenzô, denn gerade in der Gegenwart ist der Buddhismus im Begriff, für den Westen immer wichtiger zu werden. Viele Menschen sind auf der spirituellen Suche und fragen nach dem Sinn des Lebens. Im Shôbôgenzô eröffnet sich diesen Menschen eine authentische Quelle der Lehre und der Praxis des Buddha-Dharmas von unschätzbarem Wert. Dies ist besonders wichtig, weil unter dem Thema »Buddhismus« manches verbreitet wird, das mit der wahren Lehre und Erfahrung Buddhas nicht immer übereinstimmt. Im Zeitalter der Massenmedien, des Internets und der zunehmenden globalen Kommunikation gibt es selbst ernannte Lehrer, die eigentlich keine Buddhisten sind und eher Verwirrung als Klarheit stiften. So kann es für den wahrhaft Suchenden Irrwege und Sackgassen geben, wenn er verschiedenen angeblich buddhistischen Schulen folgt. Ich empfehle diesen Menschen, das Shôbôgenzô von Meister Dôgen zu studieren; Dôgen ist aktuell wie eh und je - vielleicht ist jetzt erst die Zeit in Asien und im Westen gekommen, in der seine tiefe Erfahrung und Erkenntnis des Buddha-Dharmas in breiteren Kreisen auf fruchtbaren Boden fällt. Wer das Shôbôgenzô studiert, erspart sich Irrwege, denn er studiert eine authentische buddhistische Quelle. In diesem Sinn denke ich, dass wir den wahren Sinn und Wert des Buddha-Dharmas verstehen werden, wenn wir ein so wertvolles Quellenwerk wie das Shôbôgenzô genau lesen.

2. Der Ursprung des Wortes Shôbôgenzô

Die chinesischen Schriftzeichen Shôbôgenzô tauchen zum ersten Mal in einem chinesischen Sûtra auf, dem Daibonten ô monbutsu ketsugi kyô (»Das Sûtra der Fragen und Antworten zwischen Mahâbrahman und dem Buddha«). Im Kapitel 68 des Shôbôgenzô, Udonge (»Die Udumbara-Blume«), zitiert Meister Dôgen den folgenden Satz aus diesem Sûtra:

»Vor einer Versammlung von Millionen Anwesenden auf dem Geiergipfel hält der Weltgeehrte eine Udumbara-Blume hoch und bewegt sie [wortlos] mit seinen Fingern. Daraufhin lächelt Mahâkâsyapa. Der Weltgeehrte sagt: »Ich besitze die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirvânas. Ich übertrage sie Mahâkâsyapa.«

In diesem Zitat werden die Schriftzeichen Shôbôgenzô mit »die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges« übersetzt. In China und in Japan wird angenommen, dass Gautama Buddha in dieser Geschichte die Praxis des Zazen und den reinen Geist des Nirvânas an seinen Schüler Mahâkâsyapa weitergegeben hat. Und so können wir davon ausgehen, dass »Shôbôgenzô« die Praxis des Zazen bedeutet und dass auch Meister Dôgen selbst den uns von Buddha überlieferten Begriff in dieser Geschichte als die Praxis des Zazen verstanden hat.

3. Die Bedeutung des Wortes Shôbôgenzô

Shôbôgenzô setzt sich aus 4 Schriftzeichen zusammen: Shô bedeutet »richtig« oder »wahr«, (hier ›bô‹ gelesen) bedeutet »Dharma« oder »die kosmische Ordnung«, gen bedeutet »das Auge« oder »der wesentliche Kern« und ist ein »Speicher« bzw. eine Kammer, in der kostbare Schätze aufbewahrt werden. Shôbôgenzô steht also für eine Schatzkammer, in der das Kostbarste des wahren Dharmas oder der Kern der Lehre Gautama Buddhas aufbewahrt wird.

In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass aus Meister Dôgens Verständnis des Buddha-Dharmas die Praxis des Zazen das Herzstück der Lehren Gautama Buddhas ist. Ich glaube, dass diese Bedeutung von »Shôbôgenzô« für diejenigen von großer Wichtigkeit ist, die bislang Schwierigkeiten hatten, dieses sicher nicht einfache Werk zu verstehen. Wenn man die Erfahrung der Zazen-Praxis selbst gemacht hat, ist es wesentlich einfacher, das Shôbôgenzô zu studieren und Stück für Stück zu verstehen.

Zazen ist also für das Verständnis des Shôbôgenzô von großer Bedeutung, denn Gautama Buddha verwirklichte die Wahrheit eben durch die Praxis des Zazen. Er gab diese Übungspraxis als die Wahrheit an den ersten Patriarchen in Indien, Meister Mahâkâsyapa, weiter, und sie wurde dann in einer ununterbrochenen Kette von einem indischen Patriarchen an den nächsten weitergegeben, bis sie den 28. Patriarchen Bodhidharma erreichte. Dieser ging nach China und brachte die Übung des Zazen dem chinesischen Volk. Im 13. Jahrhundert ging dann Meister Dôgen nach China und lernte dort den wahren und tiefen Sinn dieser Praxis von seinem Meister Tendô Nyojô. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Meister Dôgen sich im Shôbôgenzô immer wieder auf diese Linie der Zazen praktizierenden Buddhas und Patriarchen beruft. Wir sollten Meister Dôgens wirkliche Absicht beim Shôbôgenzô im Bewusstsein behalten, wenn wir den wahren Sinn dieses Werkes verstehen wollen.


4. Zazen in Meister Dôgens Lehre

Die Übung des Zazen wird im Shôbôgenzô durch die vier charakterisierenden Leitsätze dargestellt: Hishiryô, Shôshin tanza, Shinjin datsuraku und Shikantaza.

Hishiryô: Hi bedeutet »nicht« und shiryô »Denken« oder »Bewusstsein«. So bedeutet hishiryô »nicht [wie das gewöhnliche] Denken« oder »jenseits unseres persönlichen subjektiven Bewusstseins«. Durch seine tiefe Erfahrung des Zazen hatte Meister Dôgen erfahren, dass wir in Zazen nicht denken, sondern etwas tun, nämlich »sitzen«. In Zazen sind Denken und Tun völlig eins. Es ist der natürliche Zustand der Einheit von Körper und Geist. Wir können davon ausgehen, dass der Kern des Buddha-Dharmas darin besteht das zu tun, was richtig und heilsam ist, und das nicht zu tun, was falsch und unheilsam ist. Und in Meister Dôgens Lehre ist Zazen einfach das Musterbeispiel eines Tuns, in der der Praktizierende die Einheit des Seins in seiner reinsten Form jenseits des ich-bezogenen Denkens und Fühlens erfahren kann. Und so weist Meister Dôgen immer wieder darauf hin, dass die Praxis des Zazen eine andere, wesentlich realere Form der Erkenntnis ist, die mit dem gewöhnlichen Denken nicht erfasst werden kann. Dôgen schreibt im Kapitel 1, Bendôwa (»Ein Gespräch über die Praxis des Zazen«), hierzu:

»Denkt daran, dass selbst wenn die zahllosen Buddhas der zehn Richtungen, unzählig wie die Sandkörner des Ganges, mit all ihrer Kraft und Buddha-Weisheit versuchen wollten das Verdienst des Zazen eines Menschen zu ermessen, so ist dies nicht einmal annähernd möglich.«

Shôshin tanza: Shô bedeutet »richtig«, shin »Körper«. Tan bedeutet »regelmäßig« und za »sitzen«. Shôshin tanza bedeutet also »das regelmäßige Sitzen in Zazen in der richtigen Körperhaltung«. Auch diese Aussage weist darauf hin, dass Zazen nicht das gewöhnliche Denken, sondern ein Tun ist, das wir mit dem eigenen Körper ausführen.

Shinjin datsuraku: Shin bedeutet »Körper«, jin »Geist«. Datsu bedeutet »sich befreien« und raku »fallen lassen«. So bedeutet shinjin datsuraku »sich von Körper und Geist befreien« oder »das Fallenlassen von Körper und Geist«. Um diesen Leitsatz zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit der physischen Wirklichkeit des Zazen beschäftigen, und zwar mit der Funktionsweise des vegetativen Nervensystems. Dieses ist das Nervensystem, das vielfältige Vorgänge in unserem Körper steuert, die nicht von unserem Willen abhängen. Obwohl sich der moderne Mensch vorrangig mit willentlichen und beherrschbaren Vorgängen befasst und die nicht vom Willen steuerbaren Prozesse des Körpers mehr oder weniger ignoriert, spielt das vegetative Nervensystem eine bedeutende Rolle im menschlichen Leben und Handeln. Es steht in enger Wechselwirkung mit der Verfassung von Körper und Geist in Zazen.

Das vegetative Nervensystem basiert auf der Wechselwirkung zweier antagonistischer Teilsysteme, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus sorgt für Spannung und Energiesteigerung und der Parasympathikus für Entspannung. Wenn die Funktion des Sympathikus stärker ist als die des Parasympathikus, werden die Denkprozesse im Bewusstsein aktiviert. Wenn umgekehrt die Funktion des Parasympathikus stärker ist als die des Sympathikus, tritt die Wahrnehmung der Sinne in den Vordergrund und wir haben ein starkes Empfinden unseres Körpers. Wenn diese beiden Teilsysteme des vegetativen Nervensystems im Gleichgewicht sind, hebt sich ihre Wirkung auf, d. h. Denken und Wahrnehmen werden zunehmend schwächer oder verschwinden. In diesem Augenblick ist das Gleichgewicht aller physischen, psychischen und geistigen Funktionen erreicht, und diese Verfassung von Körper und Geist wird shinjin datsuraku genannt. So bedeutet shinjin datsuraku »Das Fallenlassen von Körper und Geist«, das heißt die Befreiung von dem gewöhnlichen Bewusstsein von Körper und Geist. Weil wir nicht mehr am Körper hängen und alle Gedanken aufgegeben haben, können wir in diesem körperlichen Sitzen-in-Zazen das Leben in seiner reinsten Form erfahren.

Shikantaza: Shikan bedeutet »nur«, ta bedeutet wörtlich »schlagen«, d. h. »etwas tun«, und za »sitzen«, so bedeutet shikantaza also »nichts anderes tun als sitzen«. In dieser körperlichen Handlung des Sitzens ohne Gewinn liegt der wesentliche Ursprung und das Zentrum der buddhistischen Lehre. Dies ist der Grund, warum Meister Dôgen in jedem Kapitel des Shôbôgenzô von dem unschätzbaren Wert der Praxis des Zazen spricht. Wir können also mit Recht annehmen, dass es ohne die Praxis des Zazen keinen Buddhismus gibt, und dass es der beste Weg ist den Buddha-Dharma selbst zu erfahren, dieses Zazen selbst zu praktizieren.

5. Was hat Gautama Buddha verwirklicht?

Im Kapitel 9 des Shôbôgenzô, Keisei sanshiki (»Die Stimme des Tales und die Form der Berge«), beschreibt Meister Dôgen Gautama Buddhas Verwirklichung der Wahrheit mit den Worten: »Die ganze Erde und alle Lebewesen verwirklichen zusammen die Wahrheit.« Wir können diesen Satz so verstehen, dass Gautama Buddha, als er zur Wahrheit erwachte, mit seinem Körper und Geist zugleich erkannte, dass die Erde und alle Lebewesen auf dieser Erde nichts als die ganze und ungeteilte Wahrheit selbst sind. Wir müssen uns also fragen, warum es so wichtig ist, das zu erkennen, was ist.

Wenn wir über die Bedeutung dieser Aussage nachdenken, könnten wir denken, dass damit gemeint ist, dass Gautama Buddha die Erleuchtung erlangt hat. Aber was ist Erleuchtung? Viele Menschen verwenden zwar den Begriff »Erleuchtung«, aber wissen nicht genau, was dies in der wirklichen Erfahrung bedeutet. In der Tat kann die Idee der »Erleuchtung« zu Missverständnissen führen und Verwirrung bei den Menschen hervorrufen, die den Buddha-Dharma suchen. Es ist sogar möglich, dass durch diesen Begriff die wahre Buddha-Lehre verdeckt oder gar verfälscht wird.

Gautama Buddha kam zu der Überzeugung, dass die Berge und Flüsse, die Erde, Gräser und Bäume die Wirklichkeit selbst sind. Ich denke, dass manche Menschen es vielleicht etwas merkwürdig finden werden, wenn sie dieses lesen. Es ist höchst selten, jemanden zu finden, der sagt, dass diese Welt, so wie ist, die Wahrheit darstellt. Die meisten Menschen haben sich seit Jahrhunderten daran gewöhnt zu glauben, dass nur hervorragende Ideen und Philosophien diese Welt erklären können. Andere Menschen wiederum denken, dass die außerordentlichen Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung die Wahrheit sind. Wir wollen uns daher eingehend damit befassen, warum Gautama Buddha sagt, dass diese Welt die Wahrheit ist.

6. Wie erkannte Gautama Buddha, dass diese Welt die Wahrheit ist?

Seit es Menschen gibt, haben sie nach der Wahrheit gesucht. In der heutigen Zeit gibt es zwei grundlegende Arten der Wahrheitssuche. Ich möchte sie vereinfachend als den idealistischen und den materialistischen Ansatz bezeichnen. Der idealistische Ansatz versucht diese Welt vornehmlich durch abstraktes Denken, d. h. durch Logik und Vernunft zu verstehen. Der materialistische Ansatz versucht die Welt durch beweiskräftige Experimente zu erkennen und geht von der wahrnehmbaren materiellen Welt aus.

Eine der Hauptmerkmale des Menschen ist, dass sein Gehirn verhältnismäßig groß ist, wenn man es mit den Tieren vergleicht. Der Mensch verfügt über außergewöhnliche analytische Fähigkeiten und hat deshalb viele hervorragende Philosophien hervorgebracht. Manche Menschen neigen dazu die wirkliche Welt, in der sie leben, mit ihren Ideen über die Welt zu verwechseln. Sie glauben dann, dass die Gedanken, Begriffe und Ideen, mit denen sie die Welt erklären, die Wirklichkeit selbst sind, und dass es keine andere Wirklichkeit als die ihres eigenen Denkens gibt. Aus dieser Sicht kann demnach die physische Welt niemals die Wahrheit sein. Ein solches Denken möchte ich daher als die idealistische Form der Wahrheitssuche bezeichnen.

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die demgegenüber diese Welt mit anderen Augen sehen. Sie glauben, dass wir die Wirklichkeit nur durch unsere Sinne wahrnehmen können und dass das, was der menschliche Geist ersinnt, nicht das sein kann, was ist. In unserem gegenwärtigen Zeitalter hat diese Weltanschauung eine sehr starke Anziehungskraft erlangt. Sie ist die Grundlage der empirisch-analytischen Methoden der modernen Naturwissenschaften. Da wir mit unseren Sinnen im Allgemeinen aber nur die materielle Seite der Welt wahrnehmen, möchte ich diesen Ansatz als die materialistische Form der Wahrheitssuche bezeichnen, bei der unsere Wahrnehmung und deren Interpretation allein als die Wahrheit angenommen wird.

Interessanterweise gab es diese beiden Interpretationen der Wirklichkeit schon zu Lebzeiten Buddhas. Seit dem 13. oder 12. Jahrhundert v. C. verbreitete sich im alten Indien eine Religion, die Brahmanismus genannt wurde. Die Brahmanen verehrten Brahman als den Schöpfergott und sagten, dass die Menschen diesem Gott, der die absolute Wahrheit sei, ähneln. Sie hielten die Menschen dazu an, ihren Geist zu reinigen und sich mit Brahman zu vereinen. In diesem Sinn können wir den Brahmanismus als eine sehr geistig-spirituell ausgerichtete Religion bezeichnen, die zur idealistischen Form der Erkenntnis gehört.

Zur selben Zeit gab es in Indien aber auch eine Reihe von Denkern, die der wahrnehmbaren Welt zugewandt waren und die alles, was über die sichtbare Welt hinausgeht, als Hirngespinst ansahen. Unter diesen waren insbesondere sechs Denker sehr berühmt, und so nannte man sie die »sechs Häretiker«. Vier von ihnen waren reine Materialisten und zwei waren Skeptiker. Sie leugneten die Existenz des Geistes und sagten: was nicht sinnlich erfassbar ist, ist nicht existent. Recht und Unrecht existieren dabei ebenso wenig wie gute oder böse Taten. Sie verneinten die Existenz von Ethik und Moral und bezweifelten deren Wert.

Gautama Buddha sah sich also wenigstens zwei widersprüchlichen Interpretationen der Welt gegenüber und er wollte einen Weg aus diesem Dilemma finden. Nachdem er viele Jahre damit verbracht hatte dieses Problem durch intensive Meditation und genaue Beobachtung der physischen Welt zu erforschen, fand er heraus, dass er selbst weder in der Welt der Ideen noch in der Welt der Sinne lebte, sondern in der sich ständig verändernden Wirklichkeit des bloßen Seins. Für diejenigen, die sich wahrhaft mit dem Buddha-Dharma befassen wollen, ist es wichtig, diese existenzielle Erfahrung Buddhas zu begreifen.

Obwohl alle Menschen heute wie vor 2.500 Jahren in dieser Wirklichkeit leben, neigen manche zu sehr dazu, in der Welt ihrer gedachten Ideen zu leben, während andere sich von ihren Sinneseindrücken täuschen lassen. Gautama Buddha sah es als seine große Aufgabe an, die Menschen zu lehren, dass sie Augenblick für Augenblick in der Wirklichkeit selbst leben.

7. Eine Methode, das wirkliche Leben direkt zu erfahren

Auf Grund seiner eigenen meditativen Erfahrung lehrte Gautama Buddha seine Schüler, regelmäßig Zazen zu üben. Wenn wir mit gekreuzten Beinen und aufrechter Wirbelsäule auf dem Kissen sitzen, beeinflusst diese Körperhaltung direkt die Funktionsweise des vegetativen Nervensystems und es bedeutet, dass die beiden Teilsysteme Sympathikus und Parasympathikus sich automatisch ausbalancieren. Das vegetative Nervensystem befindet sich dann in dem neutralen Bereich in der Mitte zwischen Plus und Minus. In diesem natürlichen Gleichgewicht der Mitte verlieren Gedanken und Wahrnehmung ihre Wichtigkeit und verschwinden langsam. Wir können dann mit großer Klarheit sehen, dass wir wirklich weder im Bereich der Gedanken noch im Bereich der Wahrnehmung und der Sinne leben. Dies ist das Erwachen zur Wirklichkeit.

Wenn Meister Dôgen vom »Fallenlassen von Körper und Geist« spricht, will er damit ausdrücken, dass wir bei ausgeglichenem vegetativen Nervensystem das normale dualistische Bewusstsein von Körper und Geist überschreiten und das Leben ganzheitlich und unmittelbar intuitiv erfahren. Dies ist nichts anderes als Tun und Handeln. Dieses Handeln aus dem reinen Sein ist kein theoretisches Wissen, sondern eine konkrete Erfahrung. Mit anderen Worten, wir erfahren es, weil wir es TUN. Dieses Erfahren IM TUN nennen wir im Buddha-Dharma die wirkliche Welt oder die Erfahrung der Wirklichkeit. Deshalb können wir sagen, dass wir in Zazen direkt in dieses wirkliche Leben hineingehen. Und wenn wir diese konkrete Erfahrung jeden Tag wiederholen, ist es möglich, den Buddha-Dharma vollkommen zu verwirklichen.

 

8. Die Wirklichkeit aus vier verschiedenen Perspektiven

Gautama Buddha wusste, dass es unmöglich ist zu dieser komplexen und sich ständig wandelnden Wirklichkeit vorzudringen, wenn man nur eine ihrer Perspektiven aufzeigt. Alle Dimensionen der Wirklichkeit durchdringen sich gegenseitig und wirken aufeinander ein. Und weil der Buddha-Dharma kein spekulatives Denken über die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst ist, so wie die Landkarte eines Landes nicht das Land selbst ist, lehrte der Buddha die Methode der vier Perspektiven, mit denen man den Dharma als Wirklichkeit verstehen und erfahren lernt. Dieselbe Aufgabe stellte sich Meister Dôgen im 13. Jahrhundert. Dôgen hat diese vier Perspektiven, die die innere Logik der buddhistischen Lehre darstellen, vollkommen geklärt, und so bilden sie die Grundstruktur aller seiner Darlegungen im Shôbôgenzô. In einem der wichtigsten Teile des Shôbôgenzô, dem Kapitel 3, Genjô kôan (»Das verwirklichte Universum«), finden wir sie zusammengefasst in den ersten vier Absätzen wieder. Dôgen sagt:

»Wenn [wir] alle Erscheinungen [Dharmas] als den Buddha-Dharma [denken], gibt es [Begriffe wie] Täuschung und Erwachen, Übung, Leben und Tod, Buddhas und Lebewesen.

Wenn [wir] die zehntausend Dinge [Dharmas] als von uns getrennt [wahrnehmen], gibt es keine Täuschung und kein Erwachen, keine Buddhas und keine Lebewesen, kein Leben und keinen Tod.

Die Buddha-Wahrheit ist von Anbeginn jenseits von Reich und Arm, und deshalb gibt es [Augenblick für Augenblick] Leben und Tod, Täuschung und Erwachen, Lebewesen und Buddhas.

Selbst wenn dies alles so ist, fallen die Blüten, obwohl wir es bedauern, und wächst das Unkraut, obwohl es uns nicht gefällt.«

Diese vier Absätze beschreiben die vier Perspektiven, die wichtig sind, um die Lehre und Praxis des Buddha-Dharmas zu erfassen.

Der erste Satz, »wenn wir alle Erscheinungen [Dharmas] als den Buddha-Dharma denken…«, bedeutet, dass viele begriffliche Unterscheidungen entstehen, wenn diese Welt aus der Perspektive des Subjekts, das über die Welt nachdenkt, gesehen wird. Dann gibt es Unterscheidungen wie zwischen Täuschung und Erwachen, zwischen dem Zustand, wenn wir üben und nicht üben, zwischen Leben und Tod, Buddhas und gewöhnlichen Menschen. Dies ist die subjektive idealistische Perspektive des Buddha-Dharmas. Ein über der physischen Welt schwebendes Subjekt versucht eine Art mentaler Landkarte oder Skizze davon anzufertigen, was die Wirklichkeit ist. Fast alle Zweige der Philosophie (wie wir sie im Westen verstehen) benutzen diese Methode. Die Landkarte ist zwar notwendig, um überhaupt einen Zugang zur Wirklichkeit zu finden und sich ihr zu nähern, aber sie ist nicht das wirkliche Territorium.

Der zweite Satz, »wenn wir die zehntausend Dinge als von uns getrennt wahrnehmen…«, beschreibt eine andere Perspektive des Buddha-Dharmas. Hier nimmt sich ein objektiv glaubendes Subjekt die Wirklichkeit als Gegenstand seiner Forschungen. Aus dieser Perspektive besteht die Welt nur aus unbelebter Materie und objektiven Tatsachen, die losgelöst von subjektiven Wertvorstellungen existieren. Es ist der Standpunkt der Wissenschaften und die konkrete physische Perspektive des Buddha-Dharmas. Auf den ersten Blick scheint das mechanistische Weltbild die Wirklichkeit »objektiver« zu erfassen als das idealistische, aber in Wirklichkeit hängt die Existenz der physischen Welt ebenfalls von einem Subjekt ab, das sie wahrnimmt und deutet. So basiert diese Perspektive auch auf der Trennung von Subjekt und Objekt, selbst wenn der Wahrnehmende keinen Unterschied zwischen Täuschung und Erwachen, zwischen Buddhas und gewöhnlichen Menschen, zwischen Leben und Tod macht. Dies ist die objektive materialistische Perspektive des Buddha-Dharmas.

Der dritte Satz, »die Buddha-Wahrheit ist von Anbeginn jenseits von Reich und Arm…«, sagt aus, dass die Buddha-Wahrheit etwas ganz anderes ist als die obigen beiden Perspektiven des Idealismus und des Materialismus. Aber können wir uns überhaupt eine Darstellung des Seins vorstellen, die nicht zum Bereich des intellektuellen Subjektivismus oder des sensorischen Objektivismus gehört? Nein! Eben weil Meister Dôgen erkannte, dass der Buddha-Dharma eine Wahrheit aufzeigt, die über alle subjektivistischen und objektivistischen Denkmodelle hinausgeht, basieren seine Darlegungen des Dharmas im Shôbôgenzô auf dieser Methode der vier Perspektiven. Im ersten Satz stellt Dôgen die subjektivistische und im zweiten Satz die objektivistische Perspektive dar, die beide auf der Trennung von Subjekt und Objekt beruhen. Im dritten Satz zeigt Dôgen auf, dass die Buddha-Wahrheit eine Perspektive hat, die über die Gegensätze der subjektivistischen und die objektivistischen Sichtweise hinausgeht, weil sie das Leben so darstellt, wie es im gegenwärtigen Augenblick gerade ist. Diese Perspektive beruht auf dem direkten Handeln im Hier-und-Jetzt. Sie basiert auf der Tatsache, dass wenn wir vollkommen im gegenwärtigen Augenblick handeln, wir Teil einer nahtlosen Ganzheit sind, die wir begrifflich die Wirklichkeit oder den Dharma nennen. Das Handeln ist der Schnittpunkt, wo sich das Ich (als Subjekt) und die Welt (als Objekt) berühren. Die Wahrheit ist für Meister Dôgen kein Suchen nach etwas Jenseitigem, sondern sie verwirklicht sich IN jedem Augenblick IM Handeln selbst. Und so können wir sagen, dass der Buddhismus nicht intellektuell, sondern pragmatisch und realistisch vorgeht und sich damit grundlegend vom Idealismus und vom Materialismus unterscheidet.

Selbst wenn der Buddha-Dharma diese pragmatisch-realistische Perspektive hat, ist diese dritte Perspektive allerdings auch nur eine Erklärung und damit nicht die Wirklichkeit selbst. Aus diesem Grund beschreibt Dôgen diese Wirklichkeit im vierten Satz in übertragener Form. Er sagt: »Selbst wenn dies alles so ist, fallen die Blüten, obwohl wir es bedauern, und wächst das Unkraut, obwohl es uns nicht gefällt.« Dies ist eine Darstellung der wahren Natur der Wirklichkeit, so wie sie ist, nämlich unabhängig von den Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen der Menschen.

Und ich denke, dass die vier Wahrheiten, die Gautama Buddha lehrte, identisch sind mit den vier Perspektiven der Wirklichkeit, die Meister Dôgen in diesen vier Absätzen und in allen Kapiteln des Shôbôgenzô darstellt. Meister Dôgen verwendet das idealistische Wertesystem und die materialistische Objektivität als eine Brücke, die man überschreiten muss, um zur wahren Natur der Wirklichkeit vorzudringen, denn der gewöhnliche Mensch sieht die Wirklichkeit nur gefiltert und verzerrt durch die Linsen seines eigenen Denkens und seiner Sinnesorgane.

 

9. Das Vertrauen in Ursache und Wirkung

Die vier Perspektiven sind also nur sinnvolle Hilfsmittel, um eine nicht-begriffliche Wirklichkeit begrifflich zu erfassen, und so gehören sie zunächst zum Subjektivismus der ersten Perspektive. Nun müssen wir uns aber der zweiten Perspektive zuwenden, die sich mit der objektiven Welt befasst. Im Shôbôgenzô gibt es viele Kapitel, die die physische Welt zum Inhalt haben, wie z. B. das Kapitel 3, Genjo kôan (»Das verwirklichte Universum«), das Kapitel 4, Ikka no myôju (»Eine leuchtende Perle«) oder das Kapitel 9, Keisei sanshiki (»Die Stimme des Tales und die Form der Berge«).

Daraus können wir schließen, dass der Dharma in Meister Dôgens Lehre auch die physische Welt umfasst, in der die Gesetze der Natur und der Physik gelten. In der heutigen Zeit hat der Mensch so viel und so ausgezeichnetes Wissen vom physischen Universum erworben und festgestellt, dass in dieser Welt das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt. In diesem Sinn scheint der Buddhismus mit der modernen wissenschaftlichen Forschung übereinzustimmen.

Meister Dôgen glaubte an diese Gesetzmäßigkeit, und zwar auch im ethischen Sinn, denn in Kapitel 89 des Shôbôgenzô, Shinjin inga (»Tiefes Vertrauen in Ursache und Wirkung«), betont Dôgen nachdrücklich:

»Im Allgemeinen ist die Wahrheit von Ursache und Wirkung in lebendiger Weise offensichtlich; sie ist keine persönliche Angelegenheit: diejenigen, die Unrecht tun, fallen, und diejenigen, die das Rechte tun, erheben sich - dies gilt ohne auch nur ein Tausendstel oder ein Hundertstel an Abweichung. Wenn Ursache und Wirkung verschwänden und substanzlos würden, könnten die Buddhas nicht in dieser Welt erscheinen, und unser Vorfahre [Meister Bodhidharma] hätte nicht aus dem Westen kommen können. Letztlich wäre es unmöglich für die Lebewesen, Buddha zu begegnen und den Dharma zu hören.«


10. Handeln im Hier-und-Jetzt

Wenn wir auf das Gesetz von Ursache und Wirkung vertrauen, entsteht ein schwer wiegendes philosophisches Problem, nämlich der Widerspruch zwischen dem Determinismus, bei dem alles festgelegt ist, und der menschlichen Freiheit.

Wenn wir sagen, dass alle Dinge und Phänomene in dieser Welt unter das Gesetz von Ursache und Wirkung fallen, dann ist alles vorherbestimmt. Denn wenn die Gegenwart durch die Vergangenheit und die Zukunft durch die Gegenwart gemäß Ursache und Wirkung festgelegt ist, dann sind alle Dinge und Phänomene bereits durch die Vergangenheit bestimmt. Aber wenn alles von der Vergangenheit determiniert ist, gibt es für die Menschen keine Möglichkeit frei zu sein und frei zu entscheiden. Das Gesetz von Ursache und Wirkung schließt dann die Idee der menschlichen Freiheit aus. Und wenn wir dem Menschen keine Freiheit zubilligen, müssen wir ihm auch die Freiheit nehmen richtig oder falsch zu handeln. Ohne die menschliche Freiheit gibt es aber keine Ethik und keine Moral.

Wenn wir im Buddhismus das Gesetz von Ursache und Wirkung anerkennen, müssen wir fragen, ob es im Buddhismus eine Ethik gibt oder nicht. Dass der Buddhismus moralisches Handeln als überaus wichtig ansieht, steht jedoch außer Zweifel und geht schon aus der Tatsache hervor, dass die Einhaltung der Gebote als der erste und wesentliche Schritt auf dem Buddha-Weg gesehen wird. Wenn wir also den Buddha-Dharma einerseits als Wahrheit annehmen wollen, müssen wir den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Gesetz von Ursache und Wirkung und der menschlichen Freiheit andererseits lösen.

Wie schon oben dargelegt, nimmt der Buddhismus eine pragmatisch-realistische Haltung ein, die das konkrete Handeln im gegenwärtigen Augenblick bzw. die Wirklichkeit selbst in den Vordergrund stellt und nicht das Denken oder die Sinne. Deshalb müssen wir alle philosophischen Probleme im Buddhismus auf der Basis unseres wirklichen Lebens, d. h. des konkreten Tun und Handelns angehen. Die Ethik im Buddhismus geht vom aktiv moralisch handelnden Menschen aus.

Wenn wir analysieren, was Tun und Handeln im Buddha-Dharma bedeutet, ist es wesentlich, dass das Wort »Tun und Handeln« nicht nur ein Begriff, sondern der wirkliche Vorgang des Handelns selbst ist. Und der wirkliche Vorgang des Handelns selbst ist im Buddha-Dharma etwas völlig anderes als nur der Begriff des Handelns.

Wenn wir beispielsweise falsch gehandelt haben, können wir niemals zur Vergangenheit zurückkehren und unser Verhalten dort korrigieren, selbst wenn es uns Leid tut. Es ist also unmöglich, in der Vergangenheit zu leben. Und unsere Träume für die Zukunft können so lang nicht realisiert werden, bis sie Gegenwart sind. Wir können also weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft leben. Und so müssen wir uns darüber klar sein, dass die einzige Zeit, in der wir wirklich handeln können, die des gegenwärtigen Augenblicks ist. Aber dieser gegenwärtige Augenblick ist von so kurzer Dauer, dass wir tatsächlich nur in einem winzigen Bruchteil eines Augenblicks leben und handeln können. Deshalb sagen wir im Buddhismus, dass unser Leben nicht in Form einer Linie verläuft, die von der Vergangenheit zur Gegenwart und dann in die Zukunft reicht, sondern dass wir immer nur in der momentanen Situation des gegenwärtigen Augenblicks leben und handeln. Und ich denke, dass diese Erkenntnis ganz wesentlich in der buddhistischen Lehre ist.

Deshalb schreibt Meister Dôgen im Kapitel 70 des Shôbôgenzô, Hotsu bodaishin (»Die Erweckung des Bodhi-Geistes«):

»Diejenigen, die den Buddha-Dharma nicht kennen und nicht an den Buddha-Dharma glauben, glauben nicht an das Prinzip der Augenblicklichkeit des Erscheinens und Vergehens aller Dinge. Wer an des Tathâgatas Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirvânas glaubt, glaubt auch an das Prinzip der Augenblicklichkeit des Erscheinens und Vergehens aller Dinge. Jetzt, wo wir den Lehren des Tathâgata begegnen, fühlen wir zwar, dass wir klar verstehen, aber wir können lediglich eine [kurze] Zeitperiode von einem tatksana oder länger wahrnehmen, und so vertrauen wir nur darauf, dass das Prinzip wahr ist. Wir sind nicht in der Lage alle Dharmas zu kennen, die der Weltgeehrte gelehrt hat, und so können wir auch nicht die Länge eines ksana kennen. Deshalb sollten die Schüler [Buddhas] niemals überheblich sein.«

Diese Worte sagen klar aus, dass alles in dieser Welt nur in einem Augenblick auftritt und dann gleich wieder vergeht. Ich denke, dass dieser Gedanke uns heute zunächst eigenartig vorkommt. Gautama Buddha hat ihn vor 2.500 Jahren im alten Indien entwickelt, und einige Buddhisten haben ihn tausend Jahre lang bewahrt und an uns weitergegeben. Ich denke, dass dieser Ansatz sehr wichtig ist und sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder auf diesem Globus verbreiten wird.

Nach meiner Ansicht hat der Materialismus am Ende des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht. Der moderne Mensch hat den Glauben an Gott verloren und er wird sich zunehmend der Trennung bewusst, die unsere moderne Zivilisation zwischen Geist und Körper sowie zwischen Intellekt und Natur entwickelt hat. Der Existenzialismus bemüht sich beispielsweise darum, eine Philosophie der Existenz im gegenwärtigen Augenblick aufzubauen, in der Geist und Körper eine Synthese eingehen. Ein anderes Beispiel ist die Philosophie der Phänomenologie, die in ihren Bemühungen, Geist und Körper zu vereinen, die Phänomene als Verbindung zwischen Geist und Körper setzt. Diltheys Philosophie des Lebens sieht das Leben als Vermittler zwischen Geist und Körper. Bei Whitehead ist der Vermittler die aktuelle Wesenheit oder das Ereignis, und bei Wittgenstein ist die Sprache der Vermittler. Wenn man diese Richtungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts betrachtet, wird m. E. deutlich, dass die Menschen nach einer Lösung für das Problem der Trennung von Geist und Körper suchen. Der Buddha-Dharma beruht dabei seit jeher auf der gelebten Einheit von Körper und Geist im konkreten Handeln und könnte damit einen wichtigen Beitrag zur Lösung des obigen Problems leisten.

Wir können einige Prinzipien aufstellen, die das Wesentliche des wirklichen Handelns im Hier-und-Jetzt sind:

1. Wirkliches Handeln ist eine völlig andere Dimension als das begriffliche Denken und Wahrnehmen.

2. Wirkliches Handeln wird hier und jetzt vollzogen.

3. Im wirklichen Handeln sind Körper und Geist, Subjekt und Objekt eine Einheit.

4. Wirkliches Handeln geschieht immer im gegenwärtigen Augenblick, und dieser nie wiederkehrende Augenblick ist zeitlos, d. h. er hat das Wesen der Ewigkeit.


11. Ethik im Buddhismus

Wie schon gesagt, wird im Buddha-Dharma die Wichtigkeit der alltäglichen Handlungen in unserem Leben besonders betont, aber unglücklicherweise haben die Menschen nicht immer die Stärke, um rechtzeitig und richtig zu handeln und kein Unrecht zu tun. Gautama Buddha wusste dies und schenkte uns in seiner Güte die Praxis des Zazen. Auf der Basis der täglichen Praxis des Zazen können die Menschen ihr Handeln mit dem Dharma und damit der kosmischen Ordnung in Einklang bringen. Und wenn wir unsere täglichen Handlungen in Harmonie mit den natürlichen Gesetzen des Dharmas vollziehen, nennen wir dies im Buddhismus das moralische Handeln. Deswegen ist der Buddhismus so tief in der natürlichen und nicht in der vom Menschen gesetzten Ethik verankert. Aus diesem Grund schätzen wir im Buddha-Dharma den Wert der Gebote so hoch ein.

Zazen ist die reinste Form einer Handlung. Beim Zazen halten wir physisch unsere Wirbelsäule aufrecht. In dieser Haltung kommt das vegetative Nervensystem, nämlich der Sympathikus und der Parasympathikus, automatisch ins Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist ein ausgeglichener und harmonischer Zustand und wird Gesundheit genannt. Das Gleichgewicht aller physischen, psychischen und geistigen Funktionen im Körper befähigt uns, unwillkürlich und ohne dabei zu denken in jedem Augenblick direkt das zu tun, was wir tun sollen und das zu vermeiden, was wir nicht tun sollen. In diesem Zustand der Einheit des Seins jenseits aller dualistischen Trennung kommt die intuitive Weisheit, die in Sanskrit Prajñâ heißt, zum Vorschein, die alle Menschen von Natur aus besitzen.

Wenn wir die Praxis des Zazen zum wesentlichen Bestandteil unseres Lebens machen und unser Handeln in jedem Augenblick daraus hervorgeht, ist es möglich, alle Probleme in der Welt lösen. Dies ist Meister Dôgens Botschaft im Shôbôgenzô.

12. Schlusswort

Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leser von meiner Auslegung des Shôbôgenzô, die ich hier dargestellt habe, überrascht sind und mich vielleicht kritisieren werden. Ich bin zu meiner Interpretation gekommen, nachdem ich das Shôbôgenzô und die buddhistische Lehre sechzig Jahre lang erforscht und praktiziert habe. Ich hoffe aber sehr, dass es einige Leser geben wird, die sich für diese Interpretation interessieren. Ich vertraue darauf, dass sie beim Lesen des Shôbôgenzô den wahren Sinn des Buddha-Dharmas finden werden, der teilweise durch zahlreiche Vorurteile und Missverständnisse seit 2.500 Jahren verborgen geblieben ist.

Meister Dôgens Shôbôgenzô ist nicht leicht zu verstehen, aber es ist ein authentisches buddhistisches Quellenwerk von großem Wert. Ich betrachte meine Interpretation des Shôbôgenzô als einen Schlüssel, mit dem hoffentlich viele Leser diesen Schatz besser aufschließen können. Wer auch Zazen praktiziert, wird es dabei leichter haben.

Sie ist der Seite www.shobogenzo.de entnommen. Dort gibt es auch ein "Probekapitel". Die Einschätzung bleibt, was unter Philosophie gesagt wurde.