Zum Thema Menschenopfer
Es geht hier um die Rekonstruktion eines Menschenopfers aus archäologischen Befunden aus dem Dumont Reiseführer Kreta (Ausgabe??? Verfasser ???)
Neue Funde der Archäologie Das Menschenopfer war vergeblich Die Erde bebt. Mit Getöse stürzen Wohnhäuser ein. In den Palastanlagen von Knbssos und Phaistos, Malia und Zakros zeigen sich erste Risse. In aller Eile kommen in einem Tempel am Fuße des heiligen Berges Jouchtas Priester zu einer Kulthandlung zusammen. Als die Mauern des Tempels wanken und kein Ende der Erdbebenwelle abzusehen ist, entschließen sich die Priester zu einem außergewöhnlichen Opfer: Nicht das Blut eines Tieres, sondern Menschenblut soll den Göttern dargebracht werden, um sie zu besänftigen. Gefaßt legt sich einer der Männer auf den Opfertisch, läßt sich fesseln und erwartet seinen Tod. Der Oberpriester zückt das Messer, das er sonst immer benutzt, um Tiere zu opfern. Mit einem gezielten Schnitt trennt er dem Jüngling, der für das minoische Volk geopfert wird, die Halsschlagader durch. Das Blut fängt er in einer Schale auf. Doch das Menschenopfer ist vergeblich. Das Erdbeben zerstört die öffentlichen und privaten Gebäude auf Kreta. Auch die großen Paläste fallen in sich zusammen. Noch bevor der Oberpriester sein Blutopfer darbringen kann, stürzt der Tempel ein. Die Priester werden vom herabfallenden Dachgebälk erschlagen. Das war vor mehr als 3700 Jahren. Da das Tempelheiligtum auf dem Hügel Anemospilia, im Gegensatz zu den Palästen von Knossos, nach dem großen Beben nicht wieder aufgebaut wurde, ist uns die Opferszene überliefert worden wie in einer Momentaufnahme. Selbst die Klingen des Opfermessers sind scharf. Der Fund hat das Leben des Ausgräbers völlig verändert. »Ich habe die Ewigkeit gesehen!« sagt Jannis Sakellarakis, der durch die Ausgrabung weltberühmt geworden ist. Sie war in zweifacher Hinsicht eine Sensation: Noch nie hatte man vorher einen Beweis dafür gefunden, daß es zu minoischer Zeit, die sich uns so friedvoll darstellt, Menschenopfer gegeben hat. Und bis zur Ausgrabung von Anemospilia hatte man geglaubt, Heiligtümer der Minoer fänden sich nur auf Berggipfeln oder in Höhlen. Die Ruinen am Fuße des Jouchtas aber waren Teile eines Tempels. Der Tempel bestand aus drei schmalen Räumen, die in einen Vorraum mündeten. Hier fand man Hunderte von Tongefäßen, die eine einwandfreie Datierung des Tempels ermöglichten. In dem Vorraum fand man auch das erste Skelett. Im westlichen der drei Tempelräume lagen die anderen drei Toten, darunter der geopferte junge Mann, dessen Alter man auf 18 Jahre schätzt. Der Priester, der das Opfer ausführte, trug kostbaren Schmuck. Das 40 Zentimeter lange Messer, das er benutzt hatte, lag auf dem Skelett des Geopferten. Im östlichen Tempelraum stand ein Altar mit Opfergefäßen. Hierhin, so vermutet man, eilte der Priester, den man erschlagen im Vorraum gefunden hat, mit dem ersten Blut des Opfers; die Scherben eines kostbaren Gefäßes, in dem das Blutopfer wohl dargebracht werden sollte, lagen um dieses Skelett herum. Im mittleren der drei Tempelräume stieß man unter anderem auf einen unbehauenen Stein, der offensichtlich eine kultische Bedeutung hatte, und auf zwei Tonfüße, die einmal eine lebensgroße Götterstatue getragen hatten. Diese muß aus Holz gewesen sein und ist beim Erdbeben, wahrscheinlich durch ein ausbrechendes Feuer, vernichtet worden - wie in allen anderen Fällen auch, in denen die Minoer Holzstatuen aufgestellt hatten. Ironie des Schicksals ist, daß dieser archäologische Fund, einer der wichtigsten in den letzten Jahrzehnten, eher zufällig gemacht worden ist. Efi Sakellarakis, Ehefrau des Ausgräbers und selbst eine in Griechenland bekannte Archäologin, unternahm an einem Sommernachmittag des Jahres 1979 mit Studenten einen Ausflug in das Gebiet am Jouchtas, um die Gegend zu erkunden. Dabei machte die Gruppe einen interessanten Oberflächenfund: ein Doppelhorn aus Kalkstein. »So etwas ist alltäglich und löst bei uns noch keine Glücksgefühle aus«, sagt die Archäologin zu diesem Fund. Aber das Ehepaar entschloß sich zu einer sofortigen Grabung, mit der am 9. Juli 1979 - in der heißesten Sommerperiode - begonnen wurde. Nach 33 Tagen lag das Drama vor ihnen, das sich 37 Jahrhunderte zuvor ereignet hatte. Das Archäologen-Ehepaar hatte schon häufiger außergewöhnliche Funde gemacht. Die Biographie von Efi und Jannis Sakellarakis ist reich an Erfolgen. 1963, als das Paar im Alter von 27 und 26 Jahren heiratete, begann Jannis Sakellarakis seine Arbeit als Archäologe. Das Ehepaar ging nach Kreta, wo der Ort Archanes - der Hügel, auf dem der Tempel gefunden wurde, liegt nur drei Kilometer von diesem Dorf entfernt - von entscheidender Bedeutung werden sollte. Schon dem Knossos-Ausgräber Evans und dem Archäologen Platon, dem Ausgräber von Zakros, war klar, daß der Ort Archanes in minoischer Zeit eine bedeutende Rolle gespielt haben mußte. So hat Evans beispielsweise in seinem Heimatort Oxford eine Sammlung minoischer Siegel aufgebaut, von denen fünf aus Archanes stammen. In diesem Jahrhundert haben die Bewohner des Ortes immer wieder Funde gemacht, mit denen sie häufig gedankenlos umgingen. »Es gab viele zerstreute Informationen über Archanes von ungeheurer Wichtigkeit«, sagt Jannis Sakellarakis. Er begann, alle Hinweise und Funde zu sammeln. Am Schreibtisch lokalisierte er eine zentrale Stelle, an der er 1964 mit einer Suchgrabung begann - man stieß auf eine minoische Anlage. Ein Herrenhaus? Eine Sommerresidenz? Oder gar der fünfte minoische Palast auf Kreta? Das Ehepaar Sakellarakis faßte einen Entschluß, der schwergefallen sein muß: die Grabung zu beenden. »Wir sind einfach ganz schnell an die Grenzen gestoßen«, sagt Jannis Sakellarakis heute dazu. Seine Grabung war eine Privatinitiative. Aus privaten Mitteln hätte er niemals genug Land kaufen können, um in Archanes ordnungsgemäß zu graben. Nur einen Steinwurf vom Ort Archanes entfernt fand der Archäologe eine neue Grabungsstätte: den Hügel von Fourni. Auch hier spielte der Zufall eine Rolle. Auf dem Hügel stand eine Hütte, die sich bald als ein Kuppelgrab herausstellte - das berühmte Kuppel- oder Tholos-Grab A. Bis zum Deckenbalken über dem ursprünglichen Eingang lag das Kuppelgrab zur Fundzeit, 1965, unter der Erde. Um die Außenwölbung herum lagen viele Steine. Der frühere Deckenbalken wurde von dem Bauern, dem die Hütte gehörte, als Türschwelle benutzt. Darüber war eine Tür angebracht worden, die jetzt zugemauert ist. Als Jannis Sakellarakis die Hütte betrat, fiel ihm sofort die Wölbung im Innern auf, die in >Bienenkorbtechnik< ausgeführt war. Dieser Raum, so vermutet der Archäologe, war schon in der Antike geplündert worden. Eine Nachbarkammer blieb jedoch unentdeckt. Hier machte das Ausgrabungsteam sensationelle Funde: In einer bemalten Grabtruhe lag eine Frau, die.-ihrem äußerst kostbaren Schmuck nach zu urteilen — zu Lebzeiten in ihrer Gesellschaft (etwa 1400 v. Chr.) eine bedeutende Rolle gespielt haben muß. Da man auf einem unbebauten Hügel leicht graben kann und das Gelände zudem einfach erworben werden konnte, stand einer Ausgrabung im größeren Stil nichts mehr im Wege. Seit dem Fund des ersten Grabes wird auf dem Hügel Fourni ununterbrochen gegraben. Ans Tageslicht kam die bedeutendste Nekropole Kretas und wohl der gesamten Ägäis. 22 Totengebäude sind bisher ausgegraben worden. An ihnen läßt sich ablesen, wie sich in einem Zeitraum von 1200 Jahren - von der Vorpalastzeit bis in mykenische Zeit - die Begräbnisstätten gewandelt haben. Manche der Gräber wurden die ganze Zeit über genutzt. Einige sind nur kleine Grüfte, andere regelrechte Friedhöfe für die Bevölkerung eines ganzen Dorfes. Die Gräber von Fourni werfen eine Reihe von Fragen auf. Woher kommt beispielsweise die Rundform der Totenhäuser? Die Wohnungen der Lebenden, die früher als Vorbild für die Totenhäuser herhalten mußten, sind in minoischer Zeit auf Kreta alles andere als rund gewesen. Andererseits werden durch die Ausgrabungen von Fourni wichtige Fragen beantwortet. So ist für Jannis Sakellarakis die Theorie, der Palast von Knossos sei nichts anderes als eine gigantische Nekropole gewesen, ad absurdum geführt. Denn warum sollte man einen solchen Totenpalast aufbauen und gleichzeitig Tote vornehmen Geschlechts in Tholos-Gräbern beisetzen? Parallel zu den Ausgrabungen auf dem Hügel von Fourni entwickelte sich die erstaunliche Karriere des Archäologen-Ehepaars weiter. Efi Sakellarakis promovierte 1971; zu dieser Zeit war ihr Mann in Heidelberg, um ebenfalls zu promovieren. Eineinhalb Jahre hat er dort gelebt. Aus dieser Zeit stammen seine vorzüglichen Deutschkenntnisse - er lernte so schnell, daß er, ohne vorher Deutsch gesprochen zu haben, nach diesen 18 Monaten seine Doktorarbeit in Deutsch vorlegen konnte. Die Heidelberger Zeit kann der Archäologe nicht vergessen. Aber auch die darauf folgende Arbeitsphase in Athen, wo seine Frau noch heute im Agora-Museum angestellt ist, nennt er »sehr wichtig«. Zunächst wurde er Leiter der prähistorischen Sammlung des Nationalmuseums in Athen. Ausgrabungen führten ihn unter anderem nach Saloniki, in den attischen Raum und nach Olympia. Eine Professur in Athen für prähistorische Wissenschaft, eine Gastprofessur in Hamburg, Vorlesungen in Heidelberg - das sind weitere Stationen vor dem erneuten Grabungsbeginn auf dem Gelände in Archanes. Seit 1978 werden dort Gebäude freigelegt, die durchaus zu einer Palastanlage gehört haben können. Aber Professor Sakellarakis will das Grabungsgelände, das mitten im Ort liegt und auf dem auch sein Wohnhaus steht, nicht ins Uferlose erweitern: »Wir brauchen keinen fünften Palast.« Zur Annahme, daß unter seinem Haus wirklich ein weiterer minoischer Palast liegt, paßt nach seiner Ansicht die Tatsache, daß der benachbarte Friedhof von Fourni ein königlicher Friedhof ist. Mit endgültiger Sicherheit wird die Frage wohl nie geklärt werden, weil in Archanes nicht auf weiter Fläche, sondern nur noch in die Tiefe gegraben wird. Die Funde, die der Professor und seine Schüler dort machen, sind außerordentlich. So wurden beispielsweise Füße und Kopf einer Elfenbeinstatue ausgegraben. Besucher des Hauses Sakellarakis in Archanes können hautnah miterleben, was der archäologische Alltag bedeutet. In erster Linie heißt das: Fleiß und Routinearbeit. So muß jede einzelne Scherbe, die gefunden wird, vermessen, gezeichnet und beschrieben werden. Ungezählte Male - »Sagen Sie ruhig: millionenfach!« - wird jede von ihnen in die Hand genommen, gedreht und gewendet, bis sie zu einer anderen Scherbe paßt, die ebenfalls schon ungezählte Male gedreht und gewendet worden ist, bis sie... Vor dem Menschenopfer-Fund war Archanes für das Archäologen-Ehepaar ein Ausgrabungsfeld, wie es jeder Archäologe sucht, nicht mehr und nicht weniger. Doch längst ist Archanes zu ihrer Heimat geworden. Und das kam so: Als die beiden Wissenschaftler nach langem Zögern wagten, ihre Theorie vom Menschenopfer-Fund bei Archanes der Öffentlichkeit vorzustellen, brach es wie ein Sturm über sie herein. Die Sensationsnachricht lief um die Welt, die »New York Times« brachte sie ebenso wie das »Neue China«. Mit einem Schlag war Jannis Sakellarakis weltberühmt. Diese Berühmtheit ärgerte ihn, denn »es war nur das Blut, was die Leute anzog«. Auch seinen Fachkollegen war die Popularität des Professors ein Dorn im Auge. Drei griechische Archäologen bekämpften ihn besonders heftig. Aber auch sie mußten sich auf einzelne typologische Gegenerklärungen beschränken; eine Gesamtinterpretation, in die sich alle Funde so einordnen ließen, daß die Menschenopfer-Theorie hinfällig geworden wäre, blieben sie schuldig. Doch durch den Streit verlor Jannis Sakellarakis die Anwartschaft auf eine ordentliche Professur. Um die Wogen zu glätten, wurde er zum Leiter des Archäologischen Museums von Heraklion bestellt. Was vom Ministerium als eine Art >Strafversetzung< gedacht war, wurde von der Öffentlichkeit und der Presse als Lohn für den Sensationsfund gewertet. Neben seiner Tätigkeit als Direktor des Museums in Heraklion, als Hausherr des Geländes von Knossos und als Ausgräber in Archanes ist der Neu-Kreter (»Kreta absorbiert einen sofort«) häufig unterwegs — als Vortragsreisender in München und London, Moskau und New York. Sein Thema: das Menschenopfer, das vergeblich war. Seine Theorie ist längst akzeptiert. »Aber das ist auch gefährlich, denn nicht alle haben verstanden, was ich damit meine«, sagt er. Er hält den von ihm gemachten Fund »eindeutig für eine einmalige Angelegenheit« - sozusagen als erstmaliger und letzter Versuch, die Götter während des Erdbebens noch einmal umzustimmen. Als Beweis für die Einmaligkeit dieses Menschenopfers dient ihm unter anderem die Tatsache, daß das Opfergefäß, was man im Tempel gefunden hat, die Form eines Stieres, und nicht die eines Menschen hat. Stiere waren es, deren Blut normalerweise den Göttern dargebracht wurde. Bisher hat es keinen weiteren Menschenopfer-Fund gegeben. So einig man sich in der Fachwelt auch ist, daß der Tempelfund von Anemospilia und die Nekropole von Fourni zu den wichtigsten archäologischen Entdeckungen dieses Jahrhunderts gehören: Kein Ausflugsbus fährt dorthin. Beide Stätten sind für die Öffentlichkeit nicht ohne weiteres zugänglich. Denn dafür fehlt das Geld. Pro Ausgrabungsstätte wären im Schichtdienst vier Wärter erforderlich, jetzt warten in Archanes drei auf gelegentliche Besucher. Sich nach ihnen durchzufragen, ist leichter als man denkt: Jedes Kind in Archanes kennt den Professor und seine Bediensteten. Eine schöne Beschreibung (engl.) mit Bildern finden Sie unter: http://www.uk.digiserve.com/mentor/minoan/anemospilia.htm
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