Shanghai zum Jahreswechsel 94/95

 

Fahrt zur Akademie für Sozialwissenschaften mit einem Vortrag über die Moral der Jugend in Deutschland

Ziemlich überraschend für mich hatte mir der chinesische Professor Xinshan Zhao, der im Sommer 1993 etwa fünf Monate bei mir in Blatzheim zu Gast war und der mein Buch "Glaube ohne Aberglaube" ins Chinesische übersetzen und veröffentlichen will (inzwischen liegt sein Manuskript bei der Druckerei) geschrieben, daß die Akademie für Sozialwissenschaften in Shanghai vorhat, mich zu Gastvorlesungen (wie er es nannte) einzuladen. Von einem Menschen aus dem Büro für "foreign affairs" dieser Akademie, in das ich mich später bei meinem Besuch einmal verirrt hatte, wurde ich aufgeklärt, daß diese Akademie sozusagen die Regierung von Shanghai wissenschaftlich berät, allerdings zumeist in wirtschaftlichen Fragen. Ich war also endlich einmal an einer richtigen Stelle gelandet. Den Termin der Unternehmung hatten wir schließlich auf diese Weihnachtsferien verlegt. Und eine Woche zusätzlich würde ich ja sicher von der Schule freibekommen, dann würde sich auch die weite Anreise lohnen. Mit einigen Schwierigkeiten ging das dann auch, denn meine Vorgesetzten waren keineswegs begeistert von der Unternehmung, obwohl ich eine schöne Einladung der Akademie auf Deutsch mit den Unterschriften der Direktoren zweier Abteilungen und auch ein Dokument vorweisen konnte, daß die Regierung Shanghai auch hinter der Einladung steht. Wie ich in Shanghai hinterher hörte, war das ganz schön kompliziert, mich in diese offiziell marxistische Gesellschaft als christlichen Theologen einzuladen, und so lief ich offiziell als "Lehrer für Moral". Die andere Schwierigkeit war die der Bezahlung, doch auf die verzichtete ich, weil das die Sache unnötig verkompliziert und verzögert hätte. Wie ich inzwischen hörte, bezahlen die Chinesen selbst für anerkannte Spezialisten oft nicht. Für Hochschullehrer übernimmt dann die Kosten der Deutsche Akademische Austauschdienst. Die fehlende Begeisterung meiner Vorgesetzten scheint im übrigen nicht nur an meiner Person zu liegen, sondern am System: Derartige Kontakte auf privater Ebene sind ganz offensichtlich von uns aus nicht gewollt und werden schon gar nicht gefördert. Was haben sich etwa die beim deutschen Konsulat in Peking angestellt, um meinen Freunden, die im Grunde mein Engagement in China aus sich heraus angeleiert haben und die ich nach Deutschland auf meine Kosten einladen will, die Visa zu erteilen. Ein halboffizielles Empfehlungsschreiben, in dem darauf hingewiesen wurde, daß es in meiner Einladung um die Vorbereitung eines Gedankenaustauschs mit der Akademie in Shanghai über die Erziehung junger Menschen zu ethischen Werte ginge, half überhaupt nichts. Im Gegenteil, so wie ich inzwischen den Eindruck habe, gaben die bewußt falsche Hinweise, welche Formulare notwendig sind, und akzeptierten irgendwelche anderen Belege nicht, weil sie nicht ganz ihren Vorschriften entsprachen, und setzten sonstige hohe Hürden (persönliche Abgabe der Visumanträge, was für jeden meiner Freunde 2 x 2048 km Bahnfahrt bedeutete), um private Antragsteller zu zermürben. (Meine Freundin erzählte mir, daß der Beamte unwirsch gefragt hätte, was das denn sei, als ihm schließlich von einem Freund, der in Peking wohnte, das absolut richtige Formular nachgereicht wurde - immerhin wurde die Möglichkeit des Nachreichens auf ein Fax von mir an den Beamten zugestanden -, und als er ihm geantwortet hätte, das sei doch genau das, was er haben wollte, hätte er es unwirsch in seine Schreibtischschublade gefeuert.) Ich fand es doch sinnvoll, den Beamten in einem Brief anzufragen (nach der Visumerteilung auszuhändigen), was ich den Studenten in Shanghai sagen sollte, wenn die fragen würden, wie Auschwitz passieren konnte. Sollte ich denen etwa sagen, daß das immer wieder passieren könnte, wenn einmal ein Verbrecher oder ein Psychopath bei uns an die Spitze kommen sollte, weil unsere Beamten unten immer wieder nur stur das machen würden, was den Vorschriften entspricht, und nicht richtig urteilen könnten? Der Kollege soll bei der Lektüre sichtlich ärgerlich geworden sein, er wird den Brief sicher demjenigen weitergegeben haben, der für die administrativen Schwierigkeiten verantwortlich ist. Eine deutsche Deutschlehrerin, die ich später im Zug Peking - Shanghai traf und mit der ich darüber sprach, bestätigte mir lebhaft meine Vermutungen: Man will einfach von unsererseits keine privaten Verbindungen. Von oben einige Augenwischerei mit dem berühmten Knöpfchendrücken und Smalltalk und sonst interessiert nur das, womit man Geld verdienen kann. Im übrigen weiß ich vom Besuch des russischen Mädchens im Zusammenhang mit der Indienfahrt her, wie schnell und problemlos solche Visa erteilt werden können, selbst wenn nur unbeglaubigte Faxe vorliegen, wenn man wirklich will.

Mein Reisebüro Flugexpreß hatte mir wieder schöne und günstige Flüge (diesmal mit Finnair Frankfurt-Peking für 1490 DM hin und zurück) herausgesucht und zwar vom 23.12. bis 13.1. Mein Auto ließ ich dann bei meinen neuen Freunden von der Apulienreise des letzten Herbstes in der Nähe des Flughafens, der Hinflug ging über Nacht und kurz vor der Ankunft hatten wir einen großartigen Blick auf die chinesische Mauer. In Peking wurde ich von einem Freund meiner Freunde abgeholt und in ein Hotel gebracht, in dem dieser auch sein Büro hatte. Doch nachdem ich festgestellt hatte, daß dieses Hotel nicht nur mehr als das Vierfache kostete als mein früheres Hotel vor fünf Jahren, dazu noch so ungünstig und weit vom Schuß lag, daß es nur umständlich mit Metro und Bus zu erreichen war und es auch keinen Fahrradverleih in der Nähe gab, zog ich in mein altes Hotel südlich des Himmelstempels um. (Den Rest hatte mir gegeben, als mir im einigermaßen vollen Bus jemand meine Hosentasche von außen mit einem scharfen Messer aufgeschnitten hatte. Geklaut hatte er nichts, doch ist die Hose nicht mehr richtig zu verwenden. Ich bin eben fürs Fahrradfahren bestimmt!)

Doch zuerst kam noch in das erste Hotel meine alte Freundin Xiao Fang, die mir auch stolz ihren und ihres Mannes Paß mit den hart erkämpften Visa zeigte. In dem neuen Hotel (dem Jong Ding Men) buchte ich dann auch noch für sie ein weiteres Doppelzimmer - Sitte und Ordnung in China! (Allerdings sah man das vor fünf Jahren bei Ausländern gar nicht so eng: Da gab es sogenannte Zweibettdormitories <= Schlafsäle>, selbst wenn sich die Gäste auch oft gar nicht kannten und durchaus gemischtgeschlechtlich waren.)

Jedenfalls hatte ich jetzt einen netten Partner für meine neuerlichen Pekingerkundungen. Auch in Peking hat sich seit meinem letzten Besuch vor fünf Jahren einiges verändert, obwohl ich damals vor allem im Zentrum war, was heute noch genauso aussieht. Doch fuhren wir unter einer Hochstraße mit gigantischen Kleeblattkreuzungen durch, und das alles hatte es damals bestimmt nicht gegeben. Und natürlich war auch der Tiananmen-Platz nicht mehr gesperrt wegen der (blutigen) Ereignisse, die damals gerade erst geschehen waren. So kamen wir diesmal auch ins Maomausoleum (also, der tote Mao sieht noch nicht einmal wie eine Wachspuppe bei Madame Toussaud aus, sondern eher wie aus Plastik), und dann ging ich mit Xiao Fang auch noch einmal in die Verbotene Stadt, selbst wenn der Eintritt für Ausländer inzwischen 12 DM kostete. Eindrucksvoller für mich war diesmal jedoch der neurestaurierte buddhistische Tempel auf der Jadeinsel im Beiheipark dahinter, von dem ich vor fünf Jahren gar keine Notiz genommen hatte. Hier ging es einmal um esoterischen Buddhismus, und man kann an Göttervereinigungen auch erkennen, was damit gemeint ist (zu deutsch eben kultische Prostitution). Doch alles wunderschön restauriert, bis auf das, was eben wegen "der Zeitumstände" (gemeint ist die Kulturrevolution 1966 bis 1976) unwiederbringlich verloren ist. Ich habe dann noch allein den buddhistischen "Tempel der Lehre" besucht (und da auch eine Vesper mit ihrem eintönigen Gesang und dem Schlangelaufen der Mönche im Tempel, Nonnen und Besucher wie ich eingeschlossen) und mit Xiao den Dao-Tempel besucht, in dem schließlich eine Stele mit Schriftzeichen als Inbegriff des Höchsten verehrt wird.

Von Weihnachten war natürlich in Peking nicht viel zu merken, doch natürlich ging ich wenigstens am ersten Feiertag abends in die Kathedrale, die ich ja noch vom letzten Mal kannte: Weihnachtsmesse in Peking. Und die Kathedrale war gerammelt voll - und alles junge Leute so um die zwanzig! Doch machte keiner irgendwann ein Kreuzzeichen, und auch sonst schienen die jungen Leute nur gerade so interessiert - alles "heidnische" Zuschauer in dem zu 99 % nichtchristlichen Land, die sich einmal Weihnachten ansehen wollten! Der Chor tat sein bestes, diesmal weniger lateinisch und nicht gregorianisch wie beim letzten Mal, jedenfalls war es irgendwie schön, hier sind es also zu Weihnachten Noch-nicht-Christen, die in die Kirche kommen. Ist es bei uns viel anders, was da die Weihnachtsgläubigen betrifft?

Ich habe übrigens den Eindruck, daß es nicht mehr die staatliche katholische Kirche wie beim letzten Mal ist, sondern daß man sich wieder Rom angenähert hat, einerseits gibt es das vorkonziliare Latein nicht mehr, andererseits hängen in den Schaukästen Bilder, auf denen auch unser Kölner Kardinal Meisner darauf ist, und der geht wohl kaum in eine nicht romtreue Kirche.

Am 27.12. (Dienstag) ging dann 14 40 Uhr mein Expreßzug nach Shanghai, wie ich sah, alles Liege- und Schlafwagen. Wie auch früher schon bezahlte ich als Westtourist (wie auch die "copatriots" von Hongkong, Macau und Taiwan) etwa den dreifachen Preis wie die einheimischen Chinesen, also DM 70 für 1462 km. Ich hatte ein ganz feudal bezogenes Bett in der obersten Etage, mit im offenen Abteil war auch noch die junge Deutschlehrerin, von der ich schon berichete. Sie gab mir aus ihrer Praxis schon einmal einige Einblicke ins Denken junger Chinesen, wie sie sich zum Beispiel mit ihren Schülern über Liebe und Ehe unterhalten hatte, schließlich ist mir dieses Wissen ja nützlich. Die jungen (männlichen) Chinesen jedenfalls scheinen ihrer Meinung nach größtenteile auch schon vor der Ehe mit ihrer Partnerin zusammenleben zu wollen, "wenn beide damit einverstanden sind". Dagegen war eher eine ältere Funktionärin, die auf das hohe Risiko hingewiesen hatte, weil dabei eben doch das Verantwortungsgefühl der Männer nicht so gefordert sei. Da ich nichts zu essen dabei hatte und da das Essen aus den Essenswagen, die durch den ohne Halt durchfahrenden Zug durchgeschoben wurden, ausverkauft war, gingen wir in den Speisewagen und ich verließ mich auf ihre Bestellungen, denn fürs Essen wurden Bons verkauft, und da hätte ich allein sowieso wieder nicht gewußt, was ich kaufen sollte. Geschlafen habe ich dann in meinem Bett ganz gut - nur war Wecken am nächsten Morgen schon um 5 Uhr, obwohl der Zug erst kurz nach 8 Uhr ankommen sollte - und als ich trotz des Lichts und trotz der Musikberieselung wieder eingeschlafen war, wurde ich um 6 30 Uhr noch einmal persönlich geweckt, weil die Bettücher eingesammelt wurden. Und bald nach der pünktlichen Ankunft in Shanghai tauchte auch mein Freund auf und nach dem ersten Kennenlernen einer Freundin (Kunstmalerin, sie verkauft ihre Bilder vor allem in Hongkong), die mich mit ihm in ihrem kleinen privaten Polski-Fiat abholte (Privatwagen sind absolute Seltenheit in China, es gibt eigentlich nur offizielle Autos und Taxis), bot sie mir in einer ihrer Wohnungen ein Zimmer an, das ich natürlich gern annahm. Und zwar lebte ich dann dort mit ihrer alten und durch einen Blutsturz (wie ich es verstanden hatte) geistig leicht geschädigten Mutter (doch das konnte ich wegen der fehlenden sprachlichen Verständigung doch nicht so ermessen, jedenfalls freute sie sich später offensichtlich, wenn ich sie begrüßte) und ihrem Dienstmädchen. Sie selbst wohnte mit ihrer 15jährigen Tochter Wei Wei in einer nagelneuen sehr schicken Wohnung weiter außerhalb, ihr Mann ist Arzt in Hongkong, und offensichtlich legen sie ihr Geld in einigen Wohnungen und Häusern an. Na, ich habe davon profitiert, denn ich brauchte nichts zu bezahlen. Ein wenige habe ich mich revanchiert, indem ich nach zwei Nächten, in denen im Bad neben meinem Zimmer pausenlos das Wasser rauschte, die Toilettenspülung ausgewechselt habe. Es ist schließlich auch eine Möglichkeit, ein anderes Land kennenzulernen, indem man etwas repariert. Ich dachte mir gleich, daß es für die Porzellanspülkästen Austauschgarnituren gibt, und ich wurde auch in einem kleinen Laden bald fündig, weil die Verkäuferin (sicher die Chefin) auch gleich verstand, was ich wollte. Daß daheim dann ein Anschluß nicht paßte, konnte nicht ausbleiben, Zwischenstücke gab es nicht, doch ich bekam statt des unpassenden Teils ein anderes. Auch paßte mir der äußere Verbindungsschlauch zum Spülkasten nicht, das war doch gewöhnlicher Duschschlauch und kein Druckschlauch, und ich wollte doch nicht, daß das Bad meiner Freunde irgendwanneinmal unter Wasser stand. Na, schließlich fand ich auch hier, was ich suchte. Die Konstruktion der Spülung ist übrigens denkbar einfach, über einen Hebel wird mit einem Kettchen ein Weichgummideckel hochgehoben und das Wasser rauscht heraus. Zuerst dachte ich, das funktioniert nie richtig, doch dann staunte ich, wie gut das klappte.

Am ersten Tag ist Xinshan erst einmal mit mir ins Hong-Kou-Viertel gefahren, also in das Viertel, wo von 1936 bis 1945 über 20 000 Juden zusammengepfercht waren zusammen mit den dort üblicherweise lebenden einheimischen Chinesen. Sie hatten dank des japanischen Konsuls Sempo Sugihara in Litauen Visa erhalten und waren über Kobe bis ins damals japanisch besetzte Shanghai gekommen und haben dort die besonders für sie unheilvolle Zeit so recht und schlecht Zeit überstanden. Eigentlich wollte der Konsul noch mehr Visa erteilen, doch paßte das dann nicht mehr in die damalige politische Landschaft und der Konsul wurde sogar aus dem Amt entlassen. Xinshan zeigte mir die Straßenzüge des Shanghaier Klein-Wien oder Klein-Berlin, wie die Leute es nannten, und in einem kleinen Park mit einem Gedenkstein in drei Sprachen an diese Zeit tranken wir einen Tee. In der Akademie erhielt ich später eine Ausarbeitung über diese Episode der Geschichte und auf dem sonntäglichen Buchbazar im Konfuziustempel (was man so nicht alles entdeckt) konnte ich sogar noch unter anderem ein speckiges Kinderbuch "Was der Storch in Afrika erlebte" für etwa 1 DM erstehen mit einer Widmung in deutscher Schreibschrift: "Liebe Helga: `Habe immer Gutes im Sinn.' Zur Erinnerung an Deine Geburtstagsfeier von Deinem Kurt Rosenbaum. Berlin-Grünheide, den 11. Juli 1932." Die schwarz-weißen Zeichnungen hatte Klein-Helga mit Bleistift ausgemalt. Ergreifend war, als ich las, daß es dem Storch in Afrika nicht gefiel und er schließlich doch wieder nach Deutschland wollte. Und dort "hob er dann den Schnabel in die Luft und klapperte vor Glück, und das hieß auf deutsch: O wie schön ist's in der lieben Heimat!" Doch das Buch ist dann in Shanghai zurückgeblieben.

Da wir keine vernünftiges gebrauchtes Fahrrad fanden, haben wir auch gleich dort eben ein neues gekauft, mit Dreigangschaltung für 80 DM, dann habe ich wenigstens eins, wenn ich wiederkomme. Allerdings werde ich dann eine längere Sattelstange von hier mitbringen, denn solche gibt's in China nicht zu kaufen, obwohl sie alle dort hergestellt werden (wie mir ein Schüler sagte). Bei den Chinesen sitzen die Sattel immer direkt auf den Rahmen, daher sieht ihr Farradstil immer aus wie "Affe auf Schleifstein".

Und dann war ich natürlich recht bald in der Akademie, einer ehemaligen (vor der Revolution) katholischen theologischen Hochschule (man kommt doch einfach nicht los von alledem), um mich mit Professor Schu, dem Fachmann für Jugendforschung, über meine Referate zu unterhalten. Dabei war mein Freund und hinzu kam bald Frau Gu, eine Psychologieassistentin (ich dachte bis zum Abschiedsessen, sie sei nicht verheiratet, da sie so jung aussah und so mädchenhaft wirkte, Xinshan sah in uns schon das deutsch-chinesische Traumpaar). Sie fungierte weitgehend als englisch-chinesische Dolmetscherin und beriet mich auch später ganz lieb - teilweise sogar während der Referate. Gegen Ende unseres Gesprächs, das in dem Raum stattfand, in dem auch "Herr Kohl" empfangen wurde, eröffnete man mir, daß ich meine Referate doch auf Englisch halten solle, denn mein Englisch sei doch ganz gut und zumindest besser als das von Herrn Kohl. Auch das noch, doch wenn meine Gastgeber meinen! Und jetzt wurden auch die beiden Termine endgültig festgelegt. Am folgenden Tag habe ich dann noch einmal meine Partner aufgesucht und gefragt, wie sie sich denn meine Themen genau vorgestellt haben. Zunächst, so meinte Professor Schu, solle ich erst einmal "stories" erzählen, die ich so im Umgang mit deutschen Jugendlichen erlebt oder erfahren habe, das war ja ein eher lockerer Anfang. Wie es aussah, hatte ich also keine Studenten zu erwarten, sondern gestandene Fachleute, und einige von ihnen waren auch schon in Europa gewesen.

Doch zuerst gab es noch einiges andere. An einem der ersten Abende war ein sehr schönes Konzert mit einer Shanghaier Sängerin, die ansonsten in Amerika lebt, Arien aus Mozart-, Verdi-, Pucciniopern, dann Gounod, Mendelssohn, Rachmaninow, Rimski-Korsakow, Dvorak, Gershwin, Lehar und chinesische Lieder, leider blieb dieses Konzert das einzige. Und am ersten Samstag machten wir einen Ausflug nach Luzhi, einem hübschen typisch chinesischen Städtchen etwa 60 km außerhalb von Shanghai, das wegen seiner vielen Brücken auch das Venedig Chinas genannt wird. Zwar gab es dort auch ein bedeutendes buddhistisches Monument (eine nachgebaute Felswand mit Skulpturen meditierender Mönche), doch etwas ganz besonders Kitschiges war diesmal für mich erheblich eindrucksvoller: Und zwar war das eine Art Gespenster-Disneyland in der Nähe von Luzhi, in dem Thema die wohl allgemein üblichen Hölle- und Himmelvorstellungen waren und auch entsprechende Märchenvorstellungen der Chinesen, nach denen so ein (jenseitiges) paradiesischen Reich unter Wasser existieren soll. Auch gab es noch andere Darstellungen, wie die Zerstörung Pompejis beim Ausbruch des Vesuvs mit zerberstenden Tempeln (aus grauem Styropor) und fliehenden und ratlosen Menschen, und die Besucher immer mittendrin. Vor allem kam ich aus dem Staunen nicht heraus, was da alles aus der Hölle gezeigt wurde! Zuerst dachte ich ja, es ginge um eine Verspottung westlicher religiöser Anschauungen, doch recht bald wußte ich nicht mehr, wieweit sich hier Spaß und Ernst miteinander vermengten. Da wurden je nach ihren früheren Vergehen und Verbrechen (Ehebruch, Heirat einer Frau von zwei Männern, aber auch Mord und Schmuggelei) natürlich weitgehend nackte Menschen gefoltert und gequält nach allen Regeln der Kunst. Eine junge Führerin kam mit und setzte immer die Mechanismen in Bewegung, so daß sich riesige Mühlsteine drehten mit blutenden Gliedern und Köpfen, da wurden Menschen enthäutet (und ihre Häute von irgendwelchen dunklen Phantommenschen zum Trocknen auf Felsen gespannt), aufgehängt (vorzugsweise umgekehrt), aufgespießt, aufgeschlitzt, gekocht, in Eis eingefroren - und so, daß man auch den ganzen Körper inklusive "Männlichkeit und Weiblichkeit" immer absolut realistisch sehen konnte. Wie gut, daß ich keinen Blitzapparat dabei hatte und mein Film auch zuende war, denn mit Sicherheit hätte ich Aufnahmen gemacht und vielleicht wäre dann hier in Deutschland die Polizei zu mir gekommen, um mich wegen brutaler perverser Neigungen zu verhaften, denn auf den Bildern wäre dann vielleicht nicht mehr zu erkennen gewesen, daß alles nur täuschend echt aussehende Plastiknachbildungen waren. Immerhin zeige ich hier einmal einen Blick auf den Thron des Satans (?) und drei nackte an den Füßen aufgehängte und mit Blut verschmierte Menschen, darunter zumindest eine nackte Frau. Dann gab es auch noch die Hölle nach Dante und den Himmel. Doch der war viel langweiliger, helles Licht, strahlende junge Leute in buntesten Kleidern in einer Gartenlandschaft mit Phantasiearchitektur in griechischem Stil und zur Musik einer Mozartmesse. Abbildungen ähnlicher Himmelsvorstellungen sah ich bisher eher in den Heftchen der Zeugen Jehovas, die chinesischen Gestalter scheinen vielleicht davon beeinflußt zu sein, denn schließlich kommen die Zeugen aus Amerika und das sah alles etwas amerikanisch aus. Der westliche Himmel also brav in Textilien, dafür waren dann die absolut hübschen Mädchen in der chinesischen Unterwasserwelt wieder nackt und nur hin und wieder dünn beschleiert.

Natürlich mache ich mir so meine Gedanken, auf welche Einstellung der Chinesen solche Darstellungen schließen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine solche extreme Sache ein isolierter Ausrutscher in einer Kultur ist, es scheint also etwa zum Erziehungsstil zu gehören, drastisch (irrationale) Bestrafungen auszumalen. Denn schließlich sehen das alles ja auch Kinder, und von einem Hinweis auf ein Jugendverbot sah ich nichts. Bei uns würden gerade die Höllendarstellungen unmöglich sein, diese Verbindung von Nacktheit und Gewalt würde für Kinder traumatische Eindrücke bedeuten, die für sie als absolut schädlich angesehen würden. Jedenfalls scheinen die Chinesen unsere Angst, sich selbst und vor allem Kinder mit sexuellen Dingen ganz gleich mit welcher Absicht zu konfrontieren, nicht zu haben. Von einem angeheirateten Verwandten in Amerika, der eine koreanische Frau hat, wurde ich allerdings eindrücklich auf die Prüderie wohl aller Ostasiaten hingewiesen. Er selbst sei einmal bei einem Besuch in Korea von seinem Schwager zurechtgestutzt worden, weil er im heißen Sommer nur mit einem Badehandtuch bekleidet aus dem Bad ins Schlafzimmer gelaufen sei, um sich dort und nicht im Bad, wo alles klebte, anzuziehen. Wie paßt solche Prüderie aber zusammen mit den Geisterweltdarstellungen aus Luzhi? Vielleicht haben die Ostasiaten einfach nur kein Verständnis, wenn die Prüderie abgelegt wird einfach nur aus Bequemlichkeit und Nachlässigkeit. Dagegen hätten sie Verständnis, wenn es um eines moralischen Wertes willen geschieht, wenn also ein sinnvolles Gesamtkonzept dahinter steht. Vermutlich ist also deren Prüderie verlagert. Ich werde nachforschen. Für mein Engagement in China sah ich hier jedenfalls ein positives Zeichen, denn die Chinesen würden möglicherweise manche kleinliche Bedenken nicht haben, die mir hier immer entgegengehalten werden, wenn es um eine realistische Information von Kindern geht, die Grundbedingung für jede echte und eigenverantwortliche Moral ist. Und wenn ich bedenke, wie die Chinesen sonst mit ihren Kindern umgehen, wie sie etwa in riesigen Scharen vor den Schulen warten, um sie abzuholen, werden vielleicht solche Traumaszenarien mehr als ausgeglichen. Am Abend gab es dann vom Bürgermeister von Luzhi dem Professor und mir zu Ehren ein typisch chinesisches Abendessen (so mit riesigem Drehteller, auf den nacheinander die Speisen aufgetischt werden, von denen man sich dann mit seinen Stäbchen nach Belieben nimmt und die Tischdecke dabei betrofft und die ungenießbaren Sachen auf die Tischdecke spuckt) auf Kosten der Regierung. Schließlich war mein Freund ja ein Mitglied der Akademie für Sozialwissenschaften und ich deren Gast und das war doch etwas. Überhaupt stellte ich fest, daß die Leute innerlich Haltung annahmen, wenn ich ihnen meine Einladung zeigte und sagte, daß ich Gast der Akademie sei, so etwa später ein Professor für Fischereifragen, der mich vor dem Shanghaier Zoo ansprach und der mit mir dann durch den Zoo spazierte und mit dem ich mir etwa den dortigen Riesenpanda ansah.

Doch nun zu meinen Vorträgen! (Sie waren in verschiedenen Shanghaier Akademien angekündigt. Die Übersetzung des chinesischen Textes lautet etwa: Ankündigung, M. Pr, Lehrer für Moral, Deutschland, D., Kaufmännische Berufsschulen, Erziehung der deutschen Jugend zu moralischen Werten, Zeit und Ort der Veranstaltung, einladende Institutionen.)

Glücklicherweise hatte ich mir noch auf dem Frankfurter Flughafen so eine Jugendzeitschrift "Mädchen", die ich auch hin und wieder bei meinen Schülerinnen entdecke, gekauft. Und die ging ich bei dem Thema "stories" (also Geschichten) durch und gab so zu allem meinen Senf und erzählte dann auch noch weiteres so aus meinem Alltag, aus dem man auf das Denken der jungen Menschen bei uns und auf unsere Erziehung schließen kann. In dem Heft gab es vor allem viel Horoskope (weitgehend über Liebe, wer zu wem paßt), dann Lebensfragen (Angst vor dem ersten Mal bei Jungen) und schließlich einige Herz-Schmerz-Liebesgeschichtchen. In denen spielten die doch so empfohlenen Horoskope und Sexualtips interessanterweise gar keine Rolle. Und ich wies auch darauf hin, daß die Kennzeichen qualifizierter Liebe, also Gemeinsamkeiten in den beruflichen oder privaten Interessen mit keinem Wort erwähnt wurden, also wohl auch an die überhaupt nicht gedacht wurde. Kein Wunder, daß ich daher auch mit meinen dringenden Hinweisen diesbezüglich bei meinen Schülern auf kein Verständnis stoße. Für das sind sie in ihrem Denken eben nicht vorbereitet, daher kommt es auch darin nicht vor. Natürlich kam ich auch auf meine Lösungsvorstellungen, denn um die geht es mir ja vor allem. )

Und dann kam ich noch auf das Buch "Sweet Little Sixteen" von Jörg Tremmel (Fischer TB 11951, 1994) zu sprechen, auf das ich durch eine Empfehlung in der FAZ gestoßen war. Der junge Hobby-Psychologe, der mit dem Recherchen zu seinen Ausführungen bei seinen Kameraden begonnen hatte, stellt als Ideal auch für uns die Kinder- und Jugenderziehung bei den Trobriandern hin (Trobriand ist eine Inselgruppe im Pazifik), wo die jungen Menschen völlige Freiheit in sexuellen Dingen haben und auch bis zu ihrer Ehe etwa 20 bis 30 Geschlechtspartner unter ihresgleichen hatten und daher in ihrem ganzen Leben ausgesprochen ausgeglichen und glücklich sein sollen. Ich konnte mir denken, daß meine Zuhörer und ich uns darin einig waren, daß das so für unsere Gesellschaften wohl nicht ginge, und die Einigkeit war auch ganz deutlich da. Dieses erste Referat fand im Amts- und Arbeitszimmer von Professor Schu statt, es waren etwa 10 bis 12 Zuhörer da, zumeist Professoren. Das Mienenspiel einiger Zuhörer war lebhaft aufgeschlossen, allerdings machte auch eine Dame ein eher unbewegliches Gesicht, sie hatte, wie man mir erzählte, ein Buch über Jugenderziehung geschrieben, ich dachte schon, daß ich da von einem Fettnäpfchen ins nächste tappe.

Mein Referat dauerte etwas über 1 1/2 Stunden, dann gab es noch eine halbe Stunde lang Fragen, immerhin hatte ich durch die Dolmetscherei die Gelegenheit, immer wieder nachzudenken. Am Ende kam dann auch die Frage, was das alles mit Religion zu tun hätte, das sei doch eher Psychologie und Anthropologie, worauf ich darlegte, daß besonders während meiner Frankfurter Studienzeit bei den dortigen Jesuiten solche Dinge gelehrt wurden, meine Zuhörer hätten da wohl eher die amerikanische Theologenausbildung im Hinterkopf, die sei da sicher wirklich mehr Bibelstudium (und natürlich auch die mythologischen Praktiken in ihren Tempeln). Mit meinem Freund und der Psychologin gingen wir dann noch in einem chinesischen Selbstbedienungsrestaurant essen (unheimliches Gedränge), mein Freund verschwand jedoch bald und mit der Psychologin unterhielt ich mich dann noch den halben Nachmittag, solche Gespräche zum Näherkennenlernen sind ja auch wichtig. Sie sitzt gerade an einer Arbeit über die Phase der schlechten Worte bei den Jungen, ich meinte dazu allerdings, daß man die nicht so tragisch sehen dürfe, die komme wohl nur daher, weil Jungen und Mädchen zu sehr getrennt würden und sich dadurch nicht mehr richtig verstünden. Und da man als Junge an die Mädchen nicht richtig herankommt und mit ihnen nicht vernünftig umgehen kann (es muß ja beileibe nicht so weit gehen wie auf Trobriand), verfahren die Jungen halt nach dem Motto des Fuchses, der an die Trauben nicht herankommt, daß sie nämlich angeblich sowieso viel zu sauer seien, daß also die Mädchen viel zu doof für sie seien. Sie schien meine Erklärung zu akzeptieren. Also, da habe ich jemanden gewonnen, wir bleiben in Kontakt! (Noch habe ich sie und ihren Mann nicht nach Deutschland eingeladen, doch das passiert bestimmt recht bald, immerhin weiß ich ja jetzt, welche Formulare notwendig sind.)

Auch wurde mir jetzt die endgültige Formulierung des zweiten Themas gegeben: Erziehung zu moralischen Werten bei uns in Deutschland. Als ich davon in der Shanghaier Altstadt drei deutschen Damen erzählte, die als Touristen dort auf eigene Faust unterwegs waren, und lachend meinte, da gebe es doch keine, stimmten sie mir - ebenfalls lachend - zu. Doch ganz so ist es nun auch wieder nicht. Mein vorbereitetes Konzept, das ich auch schon an Xinshan geschickt hatte, ließ ich jedenfalls zunächst etwas beiseite und kam dann bei dem Referat (diesmal waren etwa 15 - zumeist Professoren, doch auch ein Fachmann von einer der großen Shanghaier Zeitungen war da und eine Studienfreundin meiner Übersetzerin) darauf, daß bei uns eher die sozialen Werte gesehen würden, als da seien Erhaltung der Umwelt (also gegen Raubbau an der Natur, gegen Kernkraftwerke, gegen Gentechnik), aber auch Verständnis für Ausländer und Außenseiter und Tierliebe. Vor allem sei es uns angelegen, daß so etwas wie der Nazismus (um das nicht zutreffende Wort Faschismus und das vielleicht aneckende Wort National-Sozialismus nicht zu verwenden) nie wieder vorkomme. Doch sei unsere Angst davor schon fast so traumatisch und es werde die Bedeutung der personalen Werte, um sie einmal so zu nennen, so wenig als Hintergrund und Basis für ein gesundes Verhältnis der sozialen Werte gesehen, daß doch wieder fast erreicht wird, was eigentlich verhindert werden soll.

Um das Problem der persönlichen Werte zu erläutern, ging ich zuerst einmal auf das Freudsche Personenschema vom Über- Ich, vom Ich und vom Es ein (jetzt kenne ich auch die englischen Bezeichnungen Super-Ego, Ego und It), das heute etwas unverdaut in den Köpfen unserer deutschen Pädagogen präsent ist (und gewiß nicht nur der). Und zwar wären da vor allem im Bereich der Sexualität die kulturbedingten Normen, die sozusagen ein Über-Ich im Menschen aufbauen, was man alles darf und was man nicht darf, weil beispielsweise Gott alles sieht und uns dann möglicherweise bestraft, doch man kann auch krank werden oder sich anderweitig bloßstellen. Das Es (also die Triebsphäre) will jedoch die Triebe ausleben, also etwa die verbotene Selbstbefriedigung, und so kommt es zu einem Konflikt zwischen Über-Ich und Es, was man eben eigentlich nicht tun darf und was man doch tut. Und da dieser Konflikt im allgemeinen immer zu Ungunsten des Über-Ichs ausgeht, kommt es zu schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen, die schließlich den Boden für psychopathische Fehlentwicklungen bildeten, die dann wieder den Boden für nazistisches Ideengut vorbereiten könnten. Schließlich hätten sich die Nazis ja auch ganz massiv in das persönliche Verhalten der Menschen eingemischt und auf Einhaltung moralischer Wertvorstellungen bestanden und etwa Homosexuelle in die Konzentrationslager geschickt. Sie wollten eben eine durch und durch "reine" Gesellschaft und deswegen hätten sie auch die Juden verfolgt, die ihrer Meinung nach für Unmoral und Schlechtigkeit unseres Volkes und überhaupt aller Völker der Erde verantwortlich seien. Daher sei es heute wichtig für uns, so wenig Wertungen im Bereich der Sexualität zu geben wie möglich und schon gar nicht etwas zu verbieten, und sich die Werte von allein bilden zu lassen. So kommt es dann auch, daß bei uns Homosexualität und auch alle möglichen Perversitäten in der Pädagogik toleriert werden, und daß Erziehungsziel lediglich ist, daß junge Menschen ihre Ängste vor der Sexualität verlieren, ganz gleich ob innerhalb einer Ehe oder außerhalb. Dazu kommt dann auch noch eine Problematik, die mit unserer Demokratie zusammenhängt. Wenn jemand die Wahlen gewinnen will, ist er auf die Stimmen möglichst vieler Wähler angewiesen und kann es sich bei den knappen Mehrheiten nicht leisten, einige Wählergruppen zu vergrätzen. So kommt es dann dazu, daß schließlich vielleicht die Homosexuellen darüber bei den Wahlen entscheiden, ob Helmut Kohl Bundeskanzler bleibt oder nicht. (Das Beispiel ist nicht von mir, jedenfalls merkte ich, daß es verstanden wurde und ankam.)

Und unsere christliche Religion sei auch kaum noch ein moralischer Faktor im Hinblick auf personale Werte, denn hier sei man der Auffassung, daß eine Lösung nur möglich sei, wenn die jungen Menschen erst einmal so richtig an Gott und an eine mit ihm gegebene ewige Ordnung glaubten. Ja, im Gegenteil, durch das Festhalten unserer Kirchen besonders in der religiösen Kinderunterweisung an Unglaubwürdigkeiten, die ja auch von unserer Theologie her oft wissenschaftlich gar nicht mehr haltbar sind, wie Schöpfungsglaube, Wunderglaube, aber auch Leben-nach-dem-Tod-Vorstellungen und vielem anderen, machen sie sich irgendwie auch in anderen Dingen unglaubwürdig und zerstören darüber hinaus das historische Bewußtsein junger Menschen, daß nämlich die Menschen vor 2000 Jahren auch schon ihre Probleme hatten und denken konnten und folgerichtig zu handeln versuchten und daß wir uns heute an ihnen doch sehr gut orientieren könnten. Und sie sprechen immer vom Kampf gegen das Böse, jedoch wird nicht genau dargelegt, was das Böse nun eigentlich ist, und so wird in der Köpfen der jungen Menschen eine Leerstelle produziert. Und dann hat sich besonders die offizielle katholische Kirche bei der Problematik Empfängnisverhütung und Abtreibung festgebissen, die so nicht mehr von den Gläubigen und den übrigen Menschen in unserem Land gesehen wird.

Die Leerstelle für das Böse wird dann vor allem auch durch unsere bekanntesten Märchen noch ausgebaut, die ja im Grunde oft kaum für Kinder gedacht, sondern Volkspsychologie sind wie etwa die vom Rotkäppchen und von Hänsel und Gretel. Nach der Deutung von Erich Fromm geht es beim Rotkäppchen um die Gefährdung junger Mädchen im Umgang mit Männern und in einer anderen Quelle fand ich, daß es bei Hänsel und Gretel um Vergleichbares geht. Die alte Hexe will den Jungen natürlich nicht schlachten (denn zu essen hat sie ja genug), sondern sexuell mißbrauchen und so läßt sie sich immer das entsprechende Körperteil des Jungen zeigen. Nicht umsonst galten ja Hexen als so sexversessen, daß sie es sogar mit dem Teufel trieben. Doch das alles wird den Kindern auch nicht annähernd nahe gebracht, sondern völlig offen gelassen. Und wenn der oder die Böse dann tot ist, dann darf man sich freuen und feiern und tanzen, was dann auch ausgiebig getan wird.

In die Leerstelle können geschickte Manipulatoren gegebenenfalls irgendwelche unbequemen Außenseiter oder mißliebigen Bevölkerungsgruppen hineinpflanzen und da man durch fehlende leiblich-seelische Harmonie (das wurde ja durch die fehlende Erziehung zu moralischen Werten im Bereich der Liebe ja erreicht) sowieso auf Haß programmiert ist, wird den jungen Menschen auf einmal klar, wer mit dem Bösen gemeint ist. So produziert man Nazis, wenn auch noch andere dafür günstige Umstände hinzukommen. Ich hatte den Eindruck, daß es schlüssig für meine Zuhörer war, was ich da entwickelt hatte. Ich wies allerdings auch darauf hin, daß ich hier sozusagen über das Eingemachte unserer Kultur hergezogen wäre und dabei gegen geheiligte traditionelle kulturelle Werte angegangen war und daß jetzt eigentlich ein Gegenreferent erforderlich sei, vielleicht der deutsche Konsul (Heiterkeit). Im Hinterkopf hatte ich natürlich, daß es bei den Chinesen sicher ähnliche problematische kulturelle Werte gäbe, die sie für sich selbst hinterfragen könnten. (Allerdings glaube ich, daß das mit dem Konflikt von Über-Ich und Es und der Gefahr nazistischer Psychopathie nur vorgeschobene Gründe sind, wir wollen einfach nicht. Die wirklichen Gründe liegen tiefer.) Übrigens lassen sich auch die modernen Kindergeschichten hier einreihen, wie etwa die Mickey-Mouse-Geschichten, auch in ihnen geht es entweder um Belanglosigkeiten oder sie verstärken die Leerstellen, die schon von woandersher vorhanden sind.

Und die Familie, auf die schließlich die Verantwortlichkeit für die Erziehung zu personalen Wertvorstellungen geschoben werde, sei letztlich damit überfordert und es ginge vermutlich auch kaum. Denn die Wertvorstellungen fürs ganze weitere Leben bilden sich bei uns Menschen um das Alter von acht Jahren herum und bedürfen dabei weitgehend des Gruppeneffekts. Es ist also wichtig, daß sie innerhalb von Gruppen den jungen Menschen nahe gebracht werden müssen. Die Natur hat mit der Abhängigkeit moralischer Werte von diesem Gruppeneffekt wohl vorgesorgt, daß keine Außenseiter produziert werden, die dann nicht mehr integrierbar sind. Wir können wohl eine neue Moral für alle erziehen, jedoch nicht für einzelne, weil ansonsten etwa einsame Jungfrauen nicht mehr vermittelbar wären.

Zum Beweis für die Stichhaltigkeit meiner Darstellung, wie wenig hierzulande überhaupt eine Vorstellung zur Erziehung moralischer persönlicher Werte besteht, habe ich dann darauf hingewiesen, was ich erfahren habe, als ich im Jahre 1991 von meiner Schule zu einem AIDS-Kongreß vom Ministerium für Arbeit und Soziales NRW nach Köln geschickt worden war. Das Ergebnis dieses Kongresses war, daß man wohl irgendwann Empfehlungen an die Schulen geben würde, Kondomautomaten mit verschiedenfarbigen Kondomen aufzustellen, auf eine ethische Lösung des Problems wurde von Seiten der Leitung nie ein Gedanke verschwendet, eine Diskussionsteilnehmerin, die das ansprach, wurde gar nicht verstanden und übergangen. (Wie blamabel für unser christliches Abendland und auch für unser deutsches Land, dem angeblichen Land der Dichter und Denker! Und die sich am meisten für Christen halten, sind es mit Sicherheit nicht mehr, meine Freunde und Gesprächspartner in China sind zwar alle nicht getauft, doch sie scheinen die besseren Christen zu sein, bemühen sie sich nicht um eine wirkliche sittliche Änderung zum Besseren?

Man kann natürlich streiten über das, an was ich tüftle und wie ich es anfange, das ist mir nicht neu. Und ich höre auch bisweilen, daß das einfach nicht in die Wirklichkeit umzusetzen ist, was ich da als Ideal vor mir habe. Doch dann wollen mir dieselben Kritiker <die mit Sicherheit von Theologie kaum eine Ahnung haben, das kann ich zumindest sagen> noch Wege vorschreiben, wie ich es anfangen soll, als wenn ich mir nicht ausrechnen könnte, daß es gerade deren Wege sind, die seit jeher dazu geführt haben und in alle Ewigkeit weiter dazu führen werden, daß es nicht geht. Immerhin bin ich ja, auf was mich einmal ein Kollege hinwies, mit jungen Menschen manchmal mehrere Wochen rundum die Uhr zusammen und kann sagen, daß ich auch ansonsten manche bemerkenswerte Dinge ausgrabe, die schließlich sogar in Fernost auffallen. In der großen methodistischen Kirche im Herzen von Shanghai kam ich mit dem Pfarrer ins Gespräch und er kam recht bald auf Beethoven und Bach zu sprechen, daß diese Menschen "Kulturgut der Menschheit" seien - auch da mußte ich enttäuschen, bei unserer Jugend seien diese Leute nicht gefragt, wie der Herr so's Gescherr... Zum Glück leben wir jedoch in einer Demokratie und ich habe ausreichend Mittel, daß eine solche Unternehmung nicht von der Zustimmung irgendwelcher Funktionäre unseres Systems abhängig ist. Das konnte ich in Shanghai wenigstens immer wieder betonen!)

Zum Ende kam ich dann darauf, daß ich mich wegen aller Schwierigkeiten mit unseren psychologischen Wissenschaften weitgehend erst einmal von ihnen frei gemacht hätte. Ich würde mich ganz einfach bei der Konzipierung einer funktionierenden Moral auf das zurückbesinnen, was ich als Sechzehn- oder Siebzehnjähriger damals meiner zwei Jahre jüngeren Schwester erzählt hatte, was ich so von meinen Kameraden über deren Umgang mit Mädchen gehört hatte und was sie wirklich darüber dachten und wie sie sich folglich verhalten sollte, wenn sie nicht auch reinfallen wollte. Wenn ich heute vielleicht irgendeine Fehlentwicklung hinter mir habe, so hatte ich sie damals bestimmt nicht. Deshalb könne es wohl nicht so falsch sein, wenn ich heute auf meinen damaligen Gedankengängen auch das aufbaue, woran ich jetzt arbeite. Und inzwischen glaube ich, daß eine persönliche Moral wohl zwei Bedingungen erfüllen müsse. Sie müsse erstens vor allem intelligent sein, Selbstbewußtsein und das Bewußtsein innerer Emanzipation vermitteln, und dürfe zweitens nicht langweilig sein, sondern müsse geradezu aufregend sein und auch Spaß bringen.

Dagegen sei nicht so wichtig, ob sie einfach zu leben sei und schon gar nicht, ob sie sich in die jeweilige Kultur einfüge. Das ginge vielleicht auch gar nicht, Kultur habe vielleicht auch immer etwas mit Angst und mit mangelnder Moral zu tun. Wenn die jungen Leute wüßten wofür, wären sie auch bereit, jede Menge Opfer zu bringen und Schweres dafür zu ertragen. Wahrscheinlich wollten sie es sogar. Wenn man bei Kindern im richtigen Alter mit einer geeigneten Pädagogik anfinge (siehe oben), könne man sie sogar über die Motivation zur Nacktheit (etwa beim Schwimmen) eher von lebenslanger bewußter Moral überzeugen als über die Sexualscham. Denn die sei weitgehend eine irrationale Angst - und Angst führe nie zu wirklicher Moral. Und wirkliche Moral sei schließlich auch eine Moral aus dem Ego heraus, deren Möglichkeit auch Freud durchaus gesehen hatte - wenn auch gewiß nicht so wie ich. Und ich meinte dann auch noch, daß nach meinen Eindrücken China ganz gewiß keine Insel der Seligen sei, auch hier gebe es nicht gelingende Ehen, Enttäuschungen und Ausbeutung und schließlich sogar Prostitution (Xinshan sagte mir, daß es Frauen gebe, die dafür 5 Yuan = 1 DM nähmen).

In der letzten halben Stunde gab es dann noch Fragen, was meine Schüler am meisten interessiere ("Satanskulte", "Geisterbeschwörungen", wohl als Folge, daß sie in ihrem frühen Unterricht - und durchaus auch in dem religiösen - mit irrationalen Dingen getriezt worden seien), wie wir mit den moslemischen Schülern klar kämen ("ich finde hervorragend, für meinen Unterricht seien sie oft eine Bereicherung"), ob im Zusammenleben der jungen Leute vor und in der Ehe Unterschiede seien und was eine Scheidung koste, wie die jungen Leute die kulturelle Andersartigkeit empfänden. Und dann kam wieder die Frage, daß das doch mehr Psychologie sei, was ich machte, und nicht Religion.

Wäre diese Frage nicht gekommen, hätte ich sie noch selbst angesprochen. Und so meinte ich, daß wir ja nicht genau wissen könnten, ob es einen Gott überhaupt gebe, und wer das sicher behauptete, der lüge einfach (natürlich wird dieses Argument auch andersherum verwendet: Auch daß es keinen Gott gibt, kann man nicht wissen. Doch warum sollte ich das sagen, meine Gastgeber konnten sich das ja selbst denken.) Und wenn es einen Gott gebe, dann hätte er sicher Interesse, wenn wir Menschen vernünftig lebten und miteinander umgingen und er lege es gewiß nicht auf Kerzen- und Weihrauchopfer an und auf Knierutschen und Prozessionen und alle übrigen Gottesdienste. Und wenn ein Gott solches doch wollte, dann wollte ich bei dem lieber auf der Gegenseite stehen, denn dann müsse dort die bessere Welt sein. Ich hatte den Eindruck, diese Argumentation - obwohl etwas flott, doch anders geht es meines Erachtens auch gar nicht - akzeptierten meine Gesprächspartner.

Hinterher gab es noch ganz liebe Einzelgespräche, so etwa mit dem Journalisten, dem ich für einen Artikel ein Bild von mir zuschicken sollte. Und auch die Professorin, die ich zuerst für unnahbar hielt, kam zu mir, überreichte mir ihr Buch (wenigstens ist ein englisches Inhaltsverzeichnis drin) und meinte, daß sie so ähnlich denke wie ich. Und das Essen hinterher in einem erstklassigen Lokal in der Nähe (wieder auf Kosten der Regierung) in kleinem Kreis mit den Direktoren der beteiligten Abteilungen, dem Leiter der Auslandsverbindungsstelle und der Psychologin war richtig entspannt und wir fühlten uns wie alte Freunde. Und der Professor für Jugendforschung meinte, daß ich - wenn ich länger kommen wollte - ein Programm aufstellen solle und für die wissenschaftliche Zeitschrift der Akademie könne ich auch etwas schreiben (auf Englisch, das dann die Psychologin ins Chinesische übersetzen würde, ich habe auch schon einige Themen, die vielleicht eine gute Diskussion anleiern könnten). Ich hatte den Eindruck, es war genau das gelungen, was mein Freund Professor Zhao beabsichtigt hatte, daß ich mit den für mich richtigen Leuten zusammenkam. Und ich habe damit wohl schon mehr als einen Fuß in der Tür. Mein vor über fünf Jahren verstorbener Vater hatte ja eigentlich immer gesagt, daß ich in die Dritte Welt (jedenfalls in diese Richtung) gehen solle, hier würde ich einfach nichts erreichen, weil wir hier zu dekadent seien und einfach nicht wollten. Daß es allerdings gleich China sein sollte und daß ich mit marxistischen Professoren zusammenarbeiten würde (meinen Antimarxismus habe ich ja in dem Buch "Glaube ohne Aberglaube" dokumentiert), das hätte ihn doch etwas verwundert. Doch bescheidener geht's wahrscheinlich nicht. Vielleicht hat die Größe eines Volkes auch etwas mit seiner inneren Weite zu tun...

Und wenn ich wiederkommen sollte, steht mein Zimmer für mich auch wieder bereit, auch mein Fahrrad, das ich in dem abgeschlossenen Vorraum zur Wohnung an Fahrradschloßketten aufgehängt habe, damit es niemandem im Weg steht. Die Rückfahrt verlief wie die Hinfahrt: unproblematisch. In meinem Hotel in Peking, in dem ich noch eine Nacht blieb, unterhielt ich mich noch mit einem walisischen Pärchen und mit zwei französischen jungen Frauen. Die eine, die - wie sie sagte - wegen ihres äußeren Eindrucks und ihrer russischen Sprachkenntnisse sehr oft für eine Russin gehalten wird, überlegte gerade, wie sie 1500 kg Bücher, die sie wohl in Frankreich gesammelt hatte und mit denen sie in Ulan Bator in der Mongolei ein privates französisches Kulturzentrum aufbauen will und die jetzt zur Freude der Leute in der französischen Botschaft dort im Wege stehen, zu ihrem Zielort bringen würde. Auch sie erhielte von ihrer Botschaft keine Hilfe, private Initiative ist eben überall verdächtig und ist daher nicht gefragt. Im Flugzeug nach Helsinki saß ich dann neben einer jungen chinesischen Studentin, die wieder auf dem Weg zu ihrem Studium in Helsinki war. So etwas Unbefangenes und Reizendes erlebt man hier eigentlich recht selten, wenn das das Produkt etwa solcher Gruselkabinette ist, warum nicht?

Meinen Bericht habe ich diesmal sehr schnell fertig, denn da ich mein Notebook mit hatte, habe ich schon in Shanghai, im Flugzeug und schließlich am Flughafen in Helsinki während der Wartezeit daran gearbeitet (dort fand ich für mein Netzgerät auch jede Menge Steckdosen).

Bevor ich für länger nach Shanghai gehen sollte (ich überlege, ob ich nicht mit meinem alten Passat über Sibirien und die Mongolei fahren sollte, immerhin hat er ja eine Austauschmaschine), muß erst mein Buch fertig werden. Und dann kommen ja erst einmal meine chinesischen Freunde zu mir nach Deutschland.

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