800 Jahre Kranlucken Juli 1997

Ein Dorf in der thüringischen Rhön - siehe auch www.kranlucken.de

Schade, daß ich es nicht in der Verwandtschaft herumerzählt hatte, daß da ein wunderschönes Fest war, vielleicht wären noch andere hingefahren und wir hätten noch so nebenbei ein kleines Familientreffen machen können!

Kurz zu Kranlucken: Ein kleines Dorf im katholischen Geisaer Land in der Thüringischen Rhön, das bis zu Wende im Sperrbezirk lag, das heißt, es kamen nur Einwohner hin - und wir aus dem Westen schon gar nicht. Unsere Beziehung zu diesem Dorf ist eine absolut innige. Als sich in Winter 1945 abzeichnete, daß "wir" die Heimat im Osten verlassen mußten, ergab sich die Frage: wohin. Und da meine Mutter mit ihren Schwestern in den 20er Jahren in Kranlucken im Pfarrhaus mehrmals Ferien gemacht hatten (auf eine Annonce des Pfarrhauses hin in einer überregionalen katholischen Zeitung, denn Pfarrhäuser brauchten damals bisweilen eine zusätzliche Einnahmequelle), schlug mein Vater vor, das sei "das Ziel" der Familie im Westen. Und er hatte dann ein bedeutungsvolles Telegramm an das Pfarrhaus geschickt mit dem ungefähren Inhalt: "Sind gut aus Breslau herausgekommen und mit vier Frauen und zehn Kindern auf dem Weg nach Kranlucken, Bettzeug vorhanden..." (denn es war ja Winter und da war so etwas wichtig). Der Pfarrer mochte sich wohl freuen, doch wir wurden von den Menschen des Dorfes so herzlich aufgenommen, daß der Kontakt nie abgebrochen war, mein Vater erzählte uns immer wieder, daß sie uns nie anmerken ließen, daß wir ja "Habenichtse" waren, so etwas gab es in diesem Dorf einfach nicht. Die Gastfamilie meiner Mutter und meiner Schwester A. und mir (mein Vater war bis zum Ende des Krieges Soldat und dann bis Ende 1945 in russischer Gefangenschaft) waren F's, Bauer und Sägewerkbesitzer, die damals gleich einen Schuppen mitten im Dorf als Häuschen für uns herrichteten, das einer der Söhne der Familie, Josef, jetzt mit seiner Frau bewohnt und wo ich auch schon einige Male nach der Wende zu Gast war. Und jetzt habe ich wieder in "meinem" Zimmer geschlafen wie vor 50 Jahren, meine Mutter erzählte manchmal, daß es damals in der Nacht so kalt war, daß die Milch, die in dem Zimmer stand, am Morgen gefroren war. Vielleicht habe ich meinen "Fanatismus", daß man mit der Natur leben müßte, von daher...

Die Fahrt zum Jubiläum war also auch eine Fahrt in meine Kindheit, denn meine frühesten Erlebnisse gehen nur bis nach Kranlucken zurück. Eigentlich hätte ich mir gerade an diesem Festtag, an dem auch viele frühere Einwohner, die inzwischen überall verstreut leben, gekommen waren, ein Namensschild um den Hals hängen müssen, denn der Name "P." war noch wohlbekannt und mir konnte man ja nicht ansehen, wer ich bin. Was habe ich alles für Leute getroffen! 

Doch zum Fest: Hauptfesttag war der 13. Juli und der  Höhepunkt war außer der schönen Festschrift durch die Jahrhunderte, die mein Gastgeber und sein Bruder verfaßt hatten, diesmal nicht ein Umzug mit Wagen aus der Geschichte, sondern umgekehrt: Die "Dorfgeschichte" "stand" und die "Zuschauer" gingen herum. Und so waren Erinnerungen am Straßenrand aufgebaut - und zumeist auch noch mit Leben erfüllt. Die Besonderheit dieses Dorfs ist, daß die Anwesen der Bauern nicht besonders groß sind und daß es daher schon längst oft nicht möglich war, davon allein zu leben. So hatten sich die Bauern zumeist noch ein zweites Standbein angeschafft, Tischlerei, Sägewerk, Stellmacherei usw. Und davon zeugte jetzt der Rand der Hauptstraße zwischen den restaurierten (zumeist) Fachwerkhäusern und dem Kohlbach. Was da nicht alles aufgebaut war! Ein häuserbreites Stück Fachwerkhaus, an dem vorgeführt wurde, wie es mit Lehm ausgefüllt oder ausgemauert wurde, ein Traktor aus den 30er Jahren, der bis heute in Betrieb ist, Schmiede, Dreschmaschine, Häckselmaschine, Drechselmaschine, Seilermaschine (?). Und dann vor allem eine Spinnstube aus dem Weiler Zitters in der Nähe, wo es auch lustig zuging, eine Jagdstube aus Gerstengrund (?), einem anderen Weiler, eine Vierergruppe beim Dreschen so richtig im Takt mit Dreschflegeln, eine Gruppe Schnitter inmitten der Strohballen, eine Gruppe Wäscherinnen nach alter Art so richtig mit Zuber und Waschbrett - und alles unermüdlich und in bester Stimmung- schön wie die Frauen immer wieder quer über die Straße die Wäsche auswrangen. Bei den Schnitterinnen entdeckte ich auch Schnapsflaschen mit uralten Etiketten... Bei der Tischlerei blieb ich stehen und erzählte, daß ich aus ihrem Betrieb noch ein Küchenschrankunterteil, einen Schlafzimmerschrank, vier Stühle mit ebener Sitzfläche und vor allem einen wundervollen Küchentisch mit dicker Ahornplatte hätte, ja meine Eltern seien mit nichts angekommen und nach zwei Jahren schon mit einem ganzen Fuhrwerk weggezogen. Und ich hätte das alles nach ihrem Tod übernommen und würde es in Ehren halten, wenn gerade der Tisch auch manchmal leider völlig zugekramt sei.

So nebenbei traf ich dann frühere Nachbarn, die mich "ausfragten" nach der Verwandtschaft und mir vor allem von ihren Beziehungen zu unserer Familie erzählten. Wie sich mein Vater als Heizer im Sägewerk "angestellt" hatte, wußte ich ja schon und auch wie nett der Kontakt vieler mit meinem Onkel Bernhard war, der sich in einem von Schwestern geleiteten kleinen Altersheim in Geismar bis zu seinem Tod 1964 nützlich gemacht hatte, und vor allem wie meine Mutter begann, das Chaos in einem Haus, in dem vier Tage lang die Russen gehaust hatten, aufzuräumen, wie dann in Fulda, einer weiteren Zwischenstation unserer Familie auf dem Weg nach Köln, Frau A. für mich zur Erstkommunion gekocht hätte und wie meine Mutter zu ihrer Arbeitgeberin gegangen sei und sie angesprochen hätte, daß sie doch etwas mehr Lohn zahlen solle. Doch nicht nur um die Vergangenheit ging es, ich unterhielt mich sehr gut mit einem anderen Gast F´s aus Köln von der anderen Rheinseite, der mit der Medikamentenerprobung zu tun hat. Irgendwie fühlte ich mich da fasziniert, geht es mir nicht auch um Vergleichbares?

Nur eins bei dem Fest war schade: Es war zwar eine Tanzfläche aufgebaut, doch die Musik war so gar nicht aus der Geschichte. Ob es nicht schön gewesen wäre, wenn so Walzer oder walzerähnliche Musik gespielt worden wäre? Die "moderne" Musik ist leider nicht gerade stimmungsfördernd und schon gar nicht verbindend zwischen Alt und Jung - und so hatte mich die Musik auch nicht auf die Tanzfläche gelockt, obwohl es sehr hübsche Mädchen gab, die dann auch zu "ihrer" Musik zumeist nur miteinander tanzten.

Am Montag war ich dann noch auf einen Sprung bei meiner Cousine (väterlicherseits, 2. Grades) in Empfertshausen in der Nähe, die dort in eine Holzschnitzerfamilie nicht nur eingeheiratet hat, sondern auch sozusagen die Seele dieser Tradition in der Familie ist. Meine Neffen bereiten gerade die Arbeit an einem großen Holzrelief für eine Friedhofskapelle in einem Dorf in der Nähe Fuldas vor. Thema ist „Jesus und die Emmausjünger“, wie Jesus ihnen die rechte Hand ausstreckt und mit der linken nach schräg oben weist. Ich erklärte die Geschichte ein wenig ("Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden") und vor allem auch, daß sie typische nachösterliche Glaubensmotivation sei und daß die Begebenheit in Wirklichkeit wohl nie stattgefunden habe und eigentlich für die Anliegen, die so in einer Friedhofskapelle normal sind, nicht verwendet werden sollte. Doch das sei ja nicht ihr Problem, sie hätten da eine tolle Aufgabe und Herausforderung. Mein Neffe könne ja vorsichtig irgendeinen Doppelsinn hineinbringen, der dem Anliegen Jesu eher entspräche und der eine andere Verbindung zumindest offen ließe. Doch sollte er sich vorsehen, daß die ausgestreckte Hand nicht gedeutet werden könnte, als ob schon Jesus sie zum Geldempfang aufgehalten hätte.

So - und jetzt kann ich in Ferien fahren - noch habe ich allerdings einiges zu tun, was immer liegen geblieben ist. Schließlich will ich ja auch nachher schnell meine Arbeit zum Druck bringen, meine "Freundin" und "Cousine" Gina aus dem Nachbarort hat schon spontan Korrektur gelesen und sechs Exemplare bestellt, ich halte das für ein gutes Zeichen. Ob jedoch so ein Bericht wie dieser hier nicht auch wichtig ist? 

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